Ein Stalin-Porträt auf der Handyhülle: In Russland, aber auch in seiner georgischen Geburtsstadt Gori, wurde am Sonntag des sowjetischen Diktators Josef Stalin gedacht.

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Es sind schon 70 Jahre vergangen, seitdem Stalin am 5. März 1953 gestorben ist, aber sein Schatten über Wladimir Putins Russland ist heute allgegenwärtig. Alle Meinungsumfragen bestätigen, dass einer der schlimmsten Verbrecher des 20. Jahrhunderts als "die bedeutendste historische Persönlichkeit Russlands" betrachtet wird. Es gibt sogar eine Initiative, Wolgograd wieder in Stalingrad umzubenennen.

Präsident Putin hat den Hitler-Stalin-Pakt zur Auslöschung Polens und der baltischen Staaten als eine "defensive Maßnahme" bezeichnet. Der Aufbau des Mythos des Sieges über Nazideutschland soll den Gulag, das stalinistische Schreckensregime der Straflager, überstrahlen. Deshalb wurde die 1989 gegründete und im Oktober 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Menschenrechtsorganisation "Memorial", die sich für die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors und die Wahrung der Bürgerrechte im postsowjetischen Russland einsetzte, Ende 2021 als eine "vom Ausland mitfinanzierte Organisation" vom Obersten Gericht Russlands verboten.

"Manche Menschen entbehren der Gabe, die Wahrheit zu sagen, aber welche Ehrlichkeit atmet dafür ihre Lüge." Stanisław Jerzy Lec

Putin und sein Propagandaapparat stellen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in die Tradition des "Großen Vaterländischen Krieges" und bezeichnen die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine samt dem jüdischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj als "neue Nazis". Für die Kampagne der lückenlos kontrollierten Medien gilt der noch in der kommunistischen Ära geprägte Spruch des polnischen Satirikers Stanisław Jerzy Lec (1909–1966): "Manche Menschen entbehren der Gabe, die Wahrheit zu sagen, aber welche Ehrlichkeit atmet dafür ihre Lüge."

Unvergessliche Befreiung

Es gehört nicht zum "guten Ton" in der Putin-Ära, daran zu erinnern, dass unter Stalin von 1930 bis 1953 18 Millionen Menschen inhaftiert waren und fast drei Millionen von ihnen in der Lagerhaft starben. Nach Stalins Tod kamen auch in den Satellitenstaaten zehntausende Häftlinge aus den Gefängnissen und Internierungslagern frei. Unter diesen war auch ich als einer der jüngsten politischen Gefangenen in Ungarn. Sein Tod war der Auftakt zur turbulenten Periode der Entstalinisierung. Für die Millionen Menschen östlich der Elbe war aber erst vier Jahrzehnte später der Zusammenbruch der Sowjetunion und des von Moskau beherrschten Ostblocks die unvergessliche Befreiung. Für Putin, den damaligen Oberstleutnant des KGB in Dresden, galt all das als die "größte geopolitische Katastrophe" des 20. Jahrhunderts.

Nach der Errichtung einer großrussisch-nationalistischen Diktatur mit totalitären Zügen will Putin ein neues Imperium aufbauen. Nach der Verhaftung von 20.476 Menschen, 378 Gerichtsverfahren und 51 langen Gefängnisstrafen ist die Opposition gegen den Krieg zerschlagen oder im Ausland.

Laut den letzten Umfragen unterstützen 80 Prozent der Russen den Aggressionskrieg, dessen Dynamik aber unberechenbar ist. Unabhängige russische Beobachter warnen, dass selbst Niederlagen auf dem Schlachtfeld nicht mit Sicherheit zum Zusammenbruch des Putin-Regimes führen würden. Im Falle der Gefährdung seiner Machtfülle könnte sich der 70-jährige Herrscher allerdings nur auf Stalins Methoden verlassen. (Paul Lendvai, 6.3.2023)