Das Vereinigte Königreich baut die Brücken zur EU wieder auf, sagt der ehemalige Wirtschaftsberater der EU-Kommission Philippe Legrain in seinem Gastkommentar.

Gelingt es Premier Sunak, Unterstützung für den EU-Deal zu bekommen? Wohl nicht von seinem Vorgänger Johnson.
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Boris Johnson gewann die Wahlen 2019 mit dem Versprechen eines "ofenfertigen Deals", um "den Brexit zu Ende zu bringen". Doch während das Vereinigte Königreich tatsächlich 2020 aus der EU austrat, enthielt der Deal ein zutiefst umstrittenes Protokoll zur Regelung des besonderen Handelsstatus Nordirlands. Die erfolgreichen Verhandlungen von Premier Rishi Sunak mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über eine Änderung der Vereinbarung könnten einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU markieren.

Johnsons Erbe

Der Brexit war ein unverantwortlicher Akt der Selbstsabotage, der nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur EU ruinierte, sondern auch den brüchigen Frieden in Nordirland bedrohte. Ex-Premier Johnsons "Lösung" bestand darin zuzulassen, dass Nordirland im EU-Binnenmarkt für Waren verblieb, weiterhin den EU-Zollbestimmungen unterlag, und zugleich zu bestreiten, dass dies zu Handelsschranken innerhalb des Vereinigten Königreichs – also zwischen Großbritannien (England, Schottland, Wales) und Nordirland – führen würde. Das aber stimmte nicht: Das Nordirland-Protokoll erforderte Kontrollen und die Überprüfung von Dokumenten in britischen Häfen für alle von Großbritannien nach Nordirland verschifften Waren.

Dies führte zu erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen mit entsprechenden politischen Folgen. Viele Unionisten und Brexiteers kochten vor Zorn, dass Nordirland vom restlichen Königreich getrennt worden war und weiterhin EU-Recht unterstand. Johnsons Reaktion war genauso unvernünftig wie sein ursprünglicher Plan: Kurz vor seinem erzwungenen Rücktritt 2022 brachte er einen Gesetzentwurf ein, um das von ihm selbst ausgehandelte Nordirland-Protokoll einseitig außer Kraft zu setzen. Ein Handelskrieg mit der EU drohte.

"Durch geduldige Diplomatie, Ehrlichkeit und eine technokratische Aufmerksamkeit für die Details hat Sunak ein viel besseres Abkommen erreicht als Johnson."

Mit Sunaks "Rahmenabkommen von Windsor" werden diese Spannungen nicht komplett ausgeräumt, doch es trägt stark zu ihrer Verringerung bei. Während es weiterhin Zollkontrollen bei von Großbritannien nach Nordirland verschifften Waren geben wird, die nach Irland und in die übrige EU gehen, werden vertrauenswürdige britische Händler wie etwa die Supermarktketten in die Lage versetzt, ihre Geschäfte in Nordirland ohne Kontrollen mit Waren zu beliefern. Medikamente, die über eine Zulassung im Vereinigten Königreich, nicht aber in der EU verfügen, werden in Nordirland erhältlich sein. Postpakete und Haustiere dürfen die Irische See ungehindert überqueren.

Dies ist ein Triumph für Sunak. Durch geduldige Diplomatie, Ehrlichkeit und eine technokratische Aufmerksamkeit für die Details hat er ein viel besseres Abkommen erreicht als Johnson und wieder so etwas wie Vertrauen geschaffen. Die EU hat Großbritannien bereits eingeladen, wieder ihrem 95 Milliarden Euro schweren Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe beizutreten, und Frankreich verspricht eine engere Zusammenarbeit in der Migrationsfrage.

Viel Konfliktpotenzial

Im Vereinigten Königreich jedoch dürften sich die politischen Konflikte fortsetzen. Extremistische Angehörige der nordirischen Democratic Unionist Party könnten die Vereinbarung ablehnen. Auch einige Brexit-Hardliner in Sunaks Konservativer Partei könnten Widerstand leisten, weil Nordirland weiterhin teilweise der Rechtszuständigkeit der EU unterliegt. Der opportunistische Johnson wird unzweifelhaft versuchen, Widerspruch zu schüren.

Natürlich dürfte das Windsor-Abkommen trotzdem vom britischen Parlament gebilligt werden. Doch wenn es die Stimmen der oppositionellen Labour-Abgeordneten sind, die dieses Ergebnis sicherstellen, wäre Sunaks Stellung in der Konservativen Partei stark beschädigt. Ein neuerlicher "Bürgerkrieg" innerhalb der Partei würde deren katastrophal niedrige Umfragewerte weiter sinken lassen und könnte dazu führen, dass nervöse konservative Abgeordnete Sunak vor der nächsten spätestens im Jänner 2025 anstehenden Parlamentswahl stürzen.

Falls Sunak den Widerstand gegen seinen Deal jedoch überwindet, könnte das sein politisches Standing enorm verbessern, und die Bevölkerung sähe ihn dann womöglich als mutigen Regierungschef, der bereit sei, die Extremisten in seiner Partei zum Wohle des Landes in die Schranken zu weisen. Seine Chancen, bei der nächsten Wahl einen Überraschungssieg zu erzielen, wären noch immer gering, würden aber steigen.

Keine Brexit-Welle

Für die EU ist das neue Abkommen bezüglich Nordirlands weniger wichtig, aber doch bedeutsam. Nach dem Brexit-Referendum 2016 gab es starke Befürchtungen, dass eine populistische Welle zu weiteren Austritten und letztlich sogar zum Zusammenbruch der EU führen könnte. Inzwischen jedoch betrachten die meisten Europäerinnen und Europäer den Brexit als katastrophalen Fehlschlag. Nicht einmal rechtsextreme Populistinnen wie Frankreichs Marine Le Pen propagieren noch, in die britischen Fußstapfen zu treten.

Gesunken ist auch die Gefahr, dass das Vereinigte Königreich im Gefolge des Brexits den EU-Binnenmarkt wirtschaftlich durch Steuersenkungen und die rabiate Abschaffung von Vorschriften untergraben könnte. Als Sunaks Amtsvorgängerin Liz Truss im Herbst enorme nicht gegenfinanzierte Steuersenkungen verkündete, schossen die Zinsen in die Höhe und das Pfund Sterling stürzte ab, was Truss’ Rücktritt erzwang. Vor diesem Hintergrund kann es sich die EU leisten, einen flexibleren, entgegenkommenderen Ansatz gegenüber dem Königreich zu verfolgen.

Engere Zusammenarbeit

Während sich Europa derzeit mit dringenderen Problemen als den ausstehenden Brexit-Details auseinandersetzen muss – nicht zuletzt dem Ukrainekrieg und der damit einhergehenden Energiekrise –, müssen die EU und das Vereinigte Königreich bei diesen Herausforderungen so weit wie möglich enger zusammenarbeiten. Dies macht das Nordirland-Abkommen umso wertvoller. Nach sieben langen Jahren, in denen es die Brücken zur EU eingerissen hat, hat das Vereinigte Königreich nun womöglich endlich begonnen, sie wieder aufzubauen. (Philippe Legrain, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 7.3.2023)