Frühling 2023 auf dem Jüdischen Friedhof Währing: Noch vor wenigen Jahren waren viele der Wege komplett zugewachsen.

Foto: Regine Hendrich

Hinter hohen, unscheinbaren Mauern in Währing vollzieht sich seit Jahren eine bemerkenswerte Wandlung. Wo jahrzehntelang ein Dschungel wucherte und tausende, zum Gutteil umgestürzte und schwer beschädigte Grabsteine zudeckte, entsteht sukzessive ein steinernes Museum. Der Jüdische Friedhof Währing, errichtet 1784, war als spätere Biedermeieranlage das jüdische Pendant zum christlichen Friedhof St. Marx, auf dem im Laufe von rund hundert Jahren etwa 30.000 Menschen ihre letzte Ruhestätte fanden. Jene aus der Bevölkerung Wiens genauso wie Durchreisende, die hier verstarben.

Auch Gräber von Prominenten finden sich hier. Etwa der eindrucksvolle Sarkophag des in Odessa geborenen Getreidehändlers Joachim Ephrussi, Gründer der gleichnamigen Dynastie. Oder das Grabmal von Franziska "Fanny" Arnstein, einer der bekanntesten Salonières im Wien des 19. Jahrhunderts. Bei ihr trafen sich nicht nur bedeutende Vertreter aus Wissenschaft, Kunst und Journalismus.

Erster Weihnachtsbaum Wiens

Die gebürtige Berlinerin und Tochter eines Rabbiners soll es auch gewesen sein, die in ihrem Haushalt den ersten Weihnachtsbaum Wiens aufstellte. Cluster von Familiengräbern, wie jene des Bankers Gustav von Epstein oder die Gräber der Familie Schey, deren Oberhaupt Friedrich Schey das Ringstraßenpalais beim Goethe-Denkmal errichten ließ und das Künstlerhaus und den Musikverein finanzierte, finden sich ebenso hier.

Die letzte Beerdigung auf einem reservierten Platz auf dem Friedhof war 1912 – und damit lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich. Doch schon 1879 wurde der Friedhof eigentlich offiziell geschlossen. Es entstand ein neuer jüdischer Friedhof am 1874 eröffneten Zentralfriedhof.

Teil des Friedhofes aufgenommen auf einem Spaziergang 2020. Seither wurde ein weiteres Teilstück restauriert. Man arbeitet sich Abschnitt für Abschnitt vor.
Foto: Colette M. Schmidt

Während der NS-Diktatur wurde die Israelitische Kultusgemeinde enteignet und der Friedhof Besitz der Stadt Wien. Noch 1941 wurden hunderte Gräber, etwa von Gründungsmitgliedern der Gemeinde, exhumiert und auf den Zentralfriedhof verlegt. Von den in Währing verbleibenden wurden viele geschändet und zerstört. In der Nachkriegszeit wurde das Areal zwar restituiert, doch ein Teil wurde an die Stadt Wien abgetreten, die diesen nicht als Grünraum bewahrte, wie es religiöse Gebote vorsehen, sondern hier 1960 einen Gemeindebau, den Arthur-Schnitzler-Hof baute. In der jüdischen Religion darf ein Grab nie aufgelöst werden.

Im wuchernden Grün versteckt

Noch in den späten 1990er-Jahren konnte man viele der Grabsteine beim Besuch nicht einmal sehen und sich nur mit enormen Schwierigkeiten durch Teile des Friedhofs kämpfen. Seit 2006 ist der Friedhof regelmäßig durch Führungen zugänglich. Danach halfen immer mehr Freiwillige dabei, Äste, Büsche oder ganze umgestürzte Bäume so weit zurückzuschneiden, dass man überhaupt mit einer ernsthaften Bestandsaufnahme beginnen konnte.

Die Gräber – viele aus stark verwittertem Sandstein – erzählen sogar ohne Namen, schon durch ihre Gestaltung, Geschichten. Da gibt es die sehr schlichten Steine ebenso wie die orientalisch anmutenden sephardischen Grabstätten. Man sieht – nicht erst über die Zeit – abgerissene Säulen: ein Zeichen dafür, dass jemand hier unerwartet früh verstorben ist.

Grabmal mit einer Levitenkanne.
Foto: Regine Hendrich

In viele Steine ist die Levitenkanne gemeißelt, welche die Leviten für kultische Reinigungen im Tempel verwendeten. Auf anderen finden sich die segnenden Priesterhände, die ihren Eingang in die Popkultur durch den aus einer jüdisch-orthodoxen Familie stammenden Schauspieler Leonard Nimoy alias Mr. Spock in Star Trek fanden. Sie können der Hinweis darauf sein, dass jemand aus einem Priestergeschlecht hier begraben wurde.

Die segnenden Priesterhände hinten links. Nicht zufällig auch der Gruß von Mr. Spock im Raumschiff Enterprise.
Foto: Regine Hendrich

Geflügelte Sanduhr

Der Verein "Rettet den Jüdischen Friedhof Währing" hat sich ein anderes beliebtes Symbol als Logo auserkoren: die geflügelte Sanduhr, ein Symbol für die Vergänglichkeit der Zeit. Trotz der leidenschaftlichen Arbeit des Vereins, dessen Obmanns Günther Havranek und seiner Sprecherin Jennifer Kickert (die auch Landtagsabgeordnete der Wiener Grünen ist) hat der Friedhof noch immer nicht die Bekanntheit, die er – auch international – verdienen würde.

Dabei gaben sich parteiübergreifend die Spitzen der Politik vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen abwärts in den letzten Jahren die Klinke des Friedhofstors in die Hand. Steuerberater Havranek ist selbst unweit des Friedhofs aufgewachsen und hat schon als Bub über die Mauer kletternd den verzauberten Ort entdeckt. Mit derselben Hartnäckigkeit, mit der er vielen schon durch seinen Vorsitz der Stiftung "Rettet den Stephansdom" bekannt war, hat er nun viele Jahre Promis nach Währing gelockt, wo man rund 9000 Grabsteinen retten will.

Fast jede und jeder Einzelne scheint tief beeindruckt vom Besuch des 18.000 Quadratmeter umfassenden Geländes in der Schrottenbachgasse wieder weggegangen zu sein. Das mühsame, sukzessive Durchforsten des Dickichts hatte ein Ende, als Havranek 2019 mit einem befreundeten ranghohen Militär über das Problem sprach. Dieser vermittelte einen Termin beim Interims-Verteidigungsminister Thomas Starlinger, und dann ging alles ganz schnell: "Das Bundesheer rückte mit Pionierabteilung, Sanitätsabteilung und fahrbarer Küche an", erzählt Havranek immer noch hörbar beeindruckt, "und binnen einer Woche war der Friedhof durchgerodet." Seither kann man wieder durch das gesamte Areal gehen.

Positive Signale aus dem Bund

Die aufwendige Restaurierung von Einzelgräbern und Teilflächen von bisher 700 der insgesamt 9000 Gräber wurde durch Spenden und das Kulturministerium finanziert. Dieses stellte 600.000 Euro, die auf drei Tranchen von 2021 bis 2023 ausgezahlt wurden, bereit. Auf Nachfrage des STANDARD gibt es gute Nachrichten für den Verein. Eva Blimlinger, Kultursprecherin der Grünen im Parlament, bekräftigt: "Die Finanzierung soll in der gleichen Höhe für die nächsten drei Jahre fortgesetzt" werden.

Rendering aus dem Inneren des Taharahauses am Rande des Friedhofes, wo am 27. März Ausstellungsräume zur Geschichte der Biedermeieranlage eröffnet werden.
Foto: Jüdischer Friedhof Währing

Im Verein ist man sich sicher, dass sich die Bemühungen um den Erhalt eines wichtigen Stücks Wiener Kulturgeschichte auch eines Tages finanziell zu Buche schlagen könnten. Denn der Friedhof hat in seiner Pracht durchaus das Zeug zum Touristen-Hotspot, ähnlich wie jener in Prag. Neue Ausstellungsräume im Taharahaus, wo einst die Leichenwaschung (Tahara) vor Beerdigungen stattfand, werden am 27. März eröffnet und sind ein Schritt in diese Richtung.

(Colette M. Schmidt, 7.3.2023)