Meine Oma und meine Mama in den späten Sechzigerjahren.

Foto: Anna Wielander

"Wer soll meinen Vater pflegen, wenn ich auf Kur fahre?" Die Frage war nicht an uns Kinder oder den Rest der Familie gerichtet, sondern an die Welt. Als ihr Körper immer mehr in sich zusammensackte, standen mein Bruder und ich einfach da und schauten sie an. Völlig nutzlos kamen wir uns vor. Alles, was wir taten oder sagten, konnte nicht die Last der letzten zwanzig Lebensjahre wettmachen – Krankheit, die eigene und die der Schwester, Scheidung, Pflege der Mutter, Tod der Mutter, Pflege des Vaters, Angst vor dem Alter. Das ständige sich Sorgen müssen.

Ich frage meine Mama, ob es jemals eine Zeit gab, wo sie sich nicht um andere gekümmert hat. Sie kann sich nicht erinnern. "Ich versuche immer, dass es allen in meinem Umfeld gut geht", sagt sie. Aber wer sorgt dafür, dass es ihr gut geht?

Mama ist eine Frau

Die Geschichte meiner Mama ist fremdbestimmt. Lange entschieden die Kinder über ihr Leben. 1993, in meinem Geburtsjahr, gab sie für Erziehung und Haushalt ihren Job auf. Es war ein stilles Übereinkommen mit meinem Vater, der gut genug verdiente. Die eigene Zukunft spielte dabei keine Rolle. Dass sie eine Scheidung einmal viel Geld kosten würde und sie ohne durchgehende Erwerbsarbeit kaum Pension erhalten würde, hatte sie nicht kalkuliert. Ihre Aufgaben waren die tägliche Essenszubereitung, das pünktliche Abholen von Kindergarten und Schule, der Termin bei der Nachhilfe.

Meine Mama ist keine schüchterne Frau. Sie ist laut, humorvoll und kann Gott und der Welt die Stirn bieten.
Foto: Anna Wielander

Die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach spricht in ihrem Buch "Die Erschöpfung der Frau" von "mütterlicher Verfügbarkeit". Mit der bedingungslosen Verfügbarkeit ist auch die permanente Bereitstellung von Zeit verbunden. Die Mutter wird zur Frau, die es als Mensch unabhängig vom Kind eigentlich nicht mehr gibt.

Auch für mich war meine Mutter die meiste Zeit Mama und nicht Frau. Erst als ich letzten Sommer mitansehen musste, wie sie an der Frage zerbrach, ob sie die eigene Gesundheit über die ihres Vaters stellen kann, wurde mir klar: Dieser Schmerz, der plötzlich aus ihr herausbrach, war nichts Natürliches, sondern ist auf Kräfte von außerhalb zurückzuführen. "Gesellschaft, Männerwelt, mein Vater" – so beschreibt der französische Autor Édouard Louis diese Kräfte. Meine Mama sagt dazu einfach "Arschkarte" und meint dasselbe.

"Geht nicht, gibt’s nicht"

Eigentlich lässt sich meine Mama nichts gefallen. Sie ist keine schüchterne Frau. Ganz im Gegenteil: Sie ist laut, humorvoll und kann Gott und der Welt die Stirn bieten. Sie weiß sich immer selbst zu helfen. Das hat sie von ihrer Mutter – meiner Oma – geerbt. "Geht nicht gibt's nicht. Hast du's schon probiert?", war einer von Omas Lieblingssprüchen. Ich habe sie dafür gehasst, weil natürlich nicht alles geht, auch wenn man es noch hundertundfünfzig Mal probiert.

Jetzt wünsche ich mir oft, sie würde neben mir sitzen und mir einen ihrer Ratschläge mit nach Wien geben. Aber meine Oma lebt nicht mehr. 2018 ist sie gestorben – und mit ihr all die Funktionen, die sie in der Familie erfüllt hat.

Ich erinnere mich gerne an unsere gemeinsamen Sonntage. Wir spielten stundenlang Jolly, Schnapsen, manchmal Mühle, aßen viel zu viele Süßigkeiten. Alles war erlaubt. Aber ich hatte es auch einfach, ich war nur Gast. Für meine Oma bedeuteten große Familienessen einen Tag Arbeit. Die Küche wurde zu einem hektischen Ort, den man am besten mied. Kam man ihr zu nahe, flogen in der Regel die Fetzen. Nur sie wusste, wie es richtig geht. Natürlich. Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Aufgabe, andere mit Essen zu versorgen: den Ehemann, die Schwiegermutter, die vier Kinder und später noch deren Kinder. Was waren da schon zwanzig Knödel mehr?

Arbeit, nichts als Arbeit

Doch meine Oma verabscheute Kochen. Überhaupt alle Arbeiten, die im Haushalt anfielen, waren ihr zuwider. Sie war viel lieber bei den Tieren im Stall, half am Feld oder setzte sich auf den Traktor und fuhr aus, obwohl sie gar keinen Führerschein besaß. Die "typischen Frauenarbeiten", wie sie abfällig bemerkte, "mussten halt auch von irgendwem gemacht werden". Zum Trott der täglichen Hausarbeit sagte sie: "Ich räume zusammen, putze. Und dann kommen alle nach Hause, und ich kann gleich wieder von vorne anfangen." Wie genervt und müde sie davon war, konnte ich damals nicht verstehen.

Am liebsten war meine Oma mit dem Traktor unterwegs.
Foto: Anna Wielander

Auch die Geschichte meiner Oma wurde zum großen Teil von anderen Menschen bestimmt. Sie ist in den Vierzigerjahren geboren worden und wuchs in einem Dorf im nördlichen Waldviertel in Niederösterreich auf. Weil die Eltern einen großen Hof besaßen, aber die Arbeitskräfte fehlten, musste meine Oma schon früh mithelfen. Sie war erst fünf oder sechs Jahre alt. Mit der Schule wurde die Arbeit mehr. Sie lernte gerne und gut, nur die Zeit fehlte. Die Landwirtschaft hatte immer Vorrang, Hausübungen mussten entweder spät am Abend oder zeitig in der Früh geschrieben werden. "Eigentlich wäre ich gerne Lehrerin geworden", gestand sie einmal. "Aber das hätte ich mich nie getraut, vor meinen Eltern zu sagen."

Mit 18 hat sie meinen Großvater geheiratet und ist Bäuerin geworden. Von da an war klar, wie ihr Leben aussehen wird. Licht an, Kinder und Tiere füttern, je nach Jahreszeit säen, heuen oder dreschen, auftischen, abräumen, Licht aus. "Ich kenne meine Mutter nur arbeitend", sagt meine Mama über Oma.

In der Statistik

Die zwei Frauen trennt einiges. Sie wuchsen nicht nur in einer anderen Zeit heran, sondern gehören auch unterschiedlichen Schichten an. Meine Mama musste nicht auf Bildung verzichten und durfte werden, wer oder was sie sein wollte. Ihr ist der soziale Aufstieg gelungen, der meiner Oma verwehrt blieb. Und doch: Sie sind beide Frauen.

Von links: Meine Oma, mein Opa und seine Mutter. Die Frauen halten die Kinder.
Foto: Anna Wielander

Ich sehe sie in jeder Statistik, die ich lese: In Österreich werden laut der letzten Zeitverwendungserhebung 2008/09 rund neun Milliarden Stunden an unbezahlter Haushalts- und Betreuungsarbeit geleistet. Zwei Drittel davon erledigen Frauen. Oft können sie deshalb nur Teilzeit arbeiten. Doch wer Erwerbsarbeit reduziert, erhält später eine niedrigere Pension und ist stärker von Altersarmut betroffen. 2021 lag eine durchschnittliche Frauenpension bei 1.264 Euro und jene der Männer bei 2.164.

Ich möchte glauben, es hat sich etwas geändert, aber es fällt mir manchmal schwer. Es scheint, als könnten Frauen heute alles tun – mehr als meine Mama, viel mehr als meine Oma. Dieses Versprechen ist allerdings auch an eine Anforderung geknüpft, nämlich alles tun zu müssen. Der Bedarf an Sorgearbeit steigt, gleichzeitig orientiert sich das gesamte Leben weiterhin an Erwerbsarbeit. Auch ich werde mir deshalb einmal die Frage stellen müssen: Wer wird meine Mama pflegen, wenn sie Hilfe braucht? Und: Wird sich dabei meine Rolle von ihrer unterscheiden?

Meine Mama hat sich schließlich entschieden, doch auf Kur zu fahren und die Pflege ihres Vaters für drei Wochen anderen zu überlassen. Es war einer der wenigen Momente in ihrem Leben, wo sie nicht für alle, sondern nur für sich selbst da war. (Anna Wielander, 8.3.2023)