Billi Bierling (mit Katrin Steinbach), "Ich hab ein Rad in Kathmandu". € 28,– / 256 Seiten. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2023.

Cover: Tyrolia Verlag

Billi Bierling bei der Vorbereitung auf ihre 8000er-Besteigungen. Zum Überwinden der Gletscherbrüche sollte man mit Steigeisen an den Schuhen über Leitern steigen können.

Foto: Alex Treadway

Billi Bierling hat eine Vita, von der nicht wenige träumen, die aber andere vielleicht sogar erschaudern lässt. Die 55-jährige Journalistin aus Garmisch-Partenkirchen ist unter anderem Leiterin der Himalayan Database in Kathmandu und als Kommunikationsexpertin für humanitäre Hilfe immer wieder in Krisengebieten engagiert. Etwa während der Überschwemmungskatastrophe in Pakistan 2010, nach dem Erdbeben in Nepal 2015, nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos 2020 oder bei einem kurzen Einsatz während des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die leidenschaftliche Läuferin und Radfahrerin ("Das Fahrrad ist für mich die beste Erfindung, ist Unabhängigkeit und Freiheit, egal ob ich in Islamabad oder in Jerusalem gelebt habe".) leitet zudem Expeditionen und hat auch schon sechs der 14 Achttausender bestiegen. In ihrem mit Karin Steinbach verfassten Buch Ich hab ein Rad in Kathmandu gewährt die umtriebige Deutsche Einblicke in ihr spannendes Leben und Wirken.

In Nepals Hauptstadt hat sie als einstige Assistentin die Agenden der legendären, 2018 verstorbenen Achttausender-Chronistin Elizabeth Hawley übernommen. Nun dokumentiert sie mit ihrem Team, wer auf welche Art die Besteigung geschafft hat und wer nicht. Die Anzahl jener, die einen erfolgreichen Gipfelsturm vortäuschen, sei verschwindend klein, sagt Bierling. "Die meisten, die ich interviewe, sind ehrlich. Manche verdrehen die Wahrheit, und manche wissen es selbst gar nicht genau. Ich nehme die Daten auf und schaue mir die Gipfelbilder an. Aber 100 Prozent sicher ist man nie, es gibt ja auch Leute, die mit Photoshop gearbeitet haben." Lücken in der Dokumentation gibt es bei den Besteigungen aus China, zumal Daten von der tibetischen Seite des Everest schwer zugänglich sind.

Bierling auf dem Gipfel des Lhotse. Im Hintergrund baut sich der über den Südsattel erreichbare Mount Everest auf.
Foto: Archiv Bierling

Stimmen die Aussagen der Gipfelstürmer nicht mit denen anderer überein, gibt es schon einmal den Vermerk "umstritten". "Wenn wir genaue Beweise haben, dass geschummelt wurde, erkennen wir die Besteigung nicht an. Aber wir verteilen keine Zertifikate, wir führen eine Datenbank. Miss Hawley hat immer gesagt, ‘wir sind keine Schiedsrichterinnen, wir sind Reporterinnen‘. Wenn Zweifel aufkommen, forschen wir nach." GPS-Tracker sind auch kein endgültiger Beweis, weil sie auch einem Sherpa mitgegeben werden können. Implantate könnten helfen. "Wenn wir so weit kommen, will ich den Job nicht mehr machen. Ich mache es wegen der Menschen. Mich interessieren ihre Geschichten."

Sturm auf den Everest

Die Zahl der Everest-Besteiger ist zuletzt förmlich explodiert. Allein 2022 waren laut der Himalaja-Datenbank innert zwei Wochen 671 Leute am Gipfel, nur drei weniger als in den 43 Jahren von 1953 bis 1996, jenem Jahr, in dem es zu dem von Jon Krakauer in Into Thin Air beschriebenen Desaster kam. Bierling macht sich Gedanken über diese Entwicklung, will sie aber ebenso wenig wie den Luxus in den Basislagern verurteilen. "Auch in den Alpen schätzt man eine schöne Hütte mit heißer Dusche." Zudem gehe es auch um viele Existenzen in Nepal.

Auch heuer wird der Andrang am Everest wieder enorm sein, zumal auch Jubiläen anstehen: 70 Jahre Erstbesteigung durch Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay, 60 Jahre Himalayan Database und 45 Jahre Erstbesteigung ohne Flaschensauerstoff durch Reinhold Messner und Peter Habeler. Und die US-Journalistin und Himalaya-Chronistin Hawley wäre heuer 100 Jahre alt geworden.

Steigende Gefahr

Eine Katastrophe auf den höchsten Bergen sei ob des Andrangs natürlich nicht unbedingt vorprogrammiert. Aber: "Wo mehr Menschen sind, gibt es natürlich auch mehr Potenzial, dass mehr Menschen sterben. Am K2 gibt es eine große potenzielle Gefahr wegen der riesigen Séracs", sagt Bierling.

Neben den vielen Bergsteigern sind auch die Müllberge auf den 8000ern ein vieldiskutiertes Thema. "Wir schauen immer auf den Everest", sagt Bierling. "Aber wo es Menschen gibt, gibt es auch Müll. In Kathmandu schmeißen manche Leute den Müll aus dem Fenster. Die jungen Sherpas sind jetzt viel bewusster am Berg und räumen auf, aber sie sind noch nicht dort, wo wir in Europa sind."

Die Entwicklung der Sherpas sei generell positiv zu bewerten, sie fungieren auch immer wieder – was früher unvorstellbar war – als Expeditionsleiter. Bierling: "Inzwischen haben sie zumindest 60 Prozent des Expeditionsgeschehens in der Hand. Es gibt 70 zertifizierte Bergführer in Nepal."

Billi Bierling (re) mit Ralf Dujmovits, Elizabeth Hawley und Gerlinde Kaltenbrunner.
Foto: David Göttler

Große Aufregung nicht nur unter den Alpinisten gab es im vergangenen Sommer, als der deutsche Archivar Eberhard Jurgalski zahlreiche Besteigungen der höchsten Berge anzweifelte. Bierling würde die Einführung einer Toleranzgrenze befürworten. "Ich finde, man kann die Geschichte nicht umschreiben, wenn es nur um ein paar Meter geht. Man muss auch sehen, was sie davor geleistet haben." Heutzutage könne man den Gipfel mit den technischen Hilfsmitteln viel besser bestimmen und eine Achttausenderbesteigung nicht wie einen Hundertmeterlauf bewerten.

Bierling sieht den Respekt vor den hohen Bergen schwinden. "Weil jetzt alles zugänglich gemacht wird oder leicht aussieht." Das beginne bei der Zugspitze. "Da geht eine Gondelbahn rauf, da ist ein Restaurant oben. Manche Leute kommen mit Kindern völlig unvorbereitet und wollen auf die Zugspitze gehen. Das kann ja nicht so schwer sein."

Nach dem Trekking hoch hinaus

Auch wenn ihr als Kind die Berge ziemlich egal waren, wollte sie viele Jahre später, nachdem sie sich 1998 im Zuge einer Trekkingreise in Nepal verliebt hatte, selbst hoch hinauf, auch wenn ihr das harte Leben als Höhenbergsteigerin manchmal widerstrebte. Das Panorama einiger Achttausender, von einem Sechstausender (Parchamo, 6273 m) aus gesehen, hat sie aber so fasziniert, dass sie sich nach vielen Interviews mit Bergsteigern dachte: "Wenn die alle raufkommen, warum eigentlich ich nicht? Ich habe es dann geschafft, auch wenn ich keine Profibergsteigerin und sehr langsam bin. Aber ich habe Ausdauer und akklimatisiere mich gut."

Also stand sie 2009 auf dem Dach der Welt, obwohl ihr ein Oberschenkelhalsbruch eineinhalb Jahre davor ("Tiefpunkt meines Lebens") schwer zu schaffen gemacht hatte. Nach dem Everest (8848) bestieg sie auch den Makalu (8485) und den Lhotse (8516) – jeweils mit Flaschensauerstoff – und danach den Manaslu (8163), Cho Oyu (8188) und Broad Peak (8051) ohne Luft aus der Flasche.

Nur einmal in Panik

Angst mache ihr unterwegs nicht zu schaffen, sie sei nicht blauäugig, gehe aber auch nicht davon aus, dass ihr etwas Furchtbares passiere. "Mit Angst würde ich auch keine humanitären Einsätze machen oder in ein Flugzeug steigen. Es braucht das Vertrauen, dass es gut kommt, und die Intuition, wann es Zeit zum Umdrehen wird. Ich hatte gute Expeditionen, auch viel Glück, ich war nie in einer Lawine, nie in einer extrem gefährlichen Situation, und es ist nie ein Teammitglied gestorben." Einmal befiel sie allerdings Panik, als sie am Broad Peak ein dumpfes Geräusch hörte, das der Vorbote einer Lawine war. Das Team kehrte schnurstracks um und kam unversehrt ins Hochlager zurück.

Billi Bierling mit Heidi Sand auf dem Weg zum Gipfel des Makalu.
Foto: Archiv Billi Bierling

Bei ihren Besteigungen blieb ihr der Anblick von Verstorbenen unterwegs erspart. "Es liegen nicht überall die Toten rum, wie es manchmal recht dramatisch beschrieben wird. Ich habe da oben noch nie einen Toten gesehen. Vielleicht hatte ich auch Glück, dass ich in dem Moment da nicht hingeschaut habe." Der Tod werde gerne verdrängt. "Aber wenn du in dieser Welt lebst, dann wird er präsenter." Die Tragödien um die tödlich verunglückten Tiroler Extremkletterer David Lama und Hans-Jörg Auer (2019 in Kanada) sowie um den Schweizer Ueli Steck (2017 in Nepal) haben sie sehr mitgenommen. "Aber ich habe die Einstellung, dass es ihr Schicksal war", sagt sie.

Bierling muss nicht unbedingt noch einmal ganz hoch hinauf, aber ein siebenter Achttausender würde sie schon noch reizen. Kommt ein Anruf aus ihrer "administrativen Heimat" Schweiz, dass sie für einen Einsatz der humanitären Hilfe gebraucht werde, dann lässt sie auch einmal die Hochzeit einer Freundin sausen. Sie habe ein Urvertrauen in die Welt und in die Menschheit, sagt sie. "Das tut den Menschen vielleicht auch gut. Ich fühle mich privilegiert, viele haben die Möglichkeit gar nicht, mit Menschen in Not zu sprechen."

Die tragischen Geschichten seien auch augenöffnend. "Man kann dann auch mehr Verständnis haben. Dafür bin ich dankbar. Und auch wenn da viel Leid ist, gibt es Hoffnung. In solchen Desasterzonen gibt es immer Lichtblicke, auch wenn du nur zwei Menschen hilfst. Und es ist schon auch eine Leidenschaft. Wenn ich mich davon runterziehen lassen würde, dann wäre ich im falschen Job." (Thomas Hirner, 8.3.2023)