Protestierende in Reims, der Metropole im Nordosten Frankreichs, bieten Emmanuel Macron die Stirn. Sie halten nichts von dessen Plänen, das Pensionsalter von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen.

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In Lille demonstriert die Feuerwehr.

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Polizisten in Paris.

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Früh übt sich, wer an den Ruhestand denkt. Vor dem Gymnasium Racine im schicken achten Stadtbezirk von Paris haben Mittelschüler schon um sieben Uhr Stellung bezogen. Den Zutritt versperren sie mit Müllcontainern. Hauswarte benachbarter Gebäude versuchen, die rollenden Behälter zurückzuholen, doch die meist schwarz gekleideten Jugendlichen geben sie nicht mehr preis.

Einige machen Handyfotos, sie schicken sie an den linken Abgeordneten Louis Boyard, der 22 Jahre alt ist und am Dienstag eine "Challenge" organisiert: Wer das schönste Foto einer Schulblockade übermittelt, wird von der Partei der Insoumis (Unbeugsamen) zu einem Besuch ins Parlament eingeladen. Die Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, eine enge Vertraute von Staatspräsident Emmanuel Macron, empört sich via Twitter: "Politik ist doch kein Tiktok-Wettbewerb!"

Obstruktion im Parlament

Damit erinnert sie an die chaotischen Szenen im Parlament, wo die Pensionsdebatte durch Zwischenrufe, Verbalattacken und Obstruktion von links in ein Chaos gemündet hat. Die geplante Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre konnte deshalb bis heute nicht abgesegnet werden.

Macron weiß: An der Pensionsreform, seinem zentralen Wahlversprechen, hängt sein eigenes Schicksal. Unpopulärer denn je, hält er sich bedeckt, um den Gegnern keine zusätzliche Angriffsfläche zu bieten. Dafür werfen seine Minister den Gewerkschaften vor, sie brächten die Wirtschaft zum Erliegen. Die attackierte CGT beeindruckt dies wenig: Sie lässt am Dienstagmorgen stolz verlauten, sie habe die Zufahrten zu sämtlichen Raffinerien Frankreichs gesperrt. Und das nicht nur für einen Tag.

Viele Flüge ausgefallen

Auch viele U-Bahnen und Pendlerzüge stehen weitgehend still. Wer kann, arbeitet im Homeoffice. Viele Flüge fallen aus. Am Flughafen Nantes ruft eine verhinderte Passagierin in eine TV-Kamera: "Diese Streikenden sollten sich erkundigen, wo im Ausland das Pensionsalter liegt. Armes Frankreich!"

So denken aber laut Umfragen nur 30 Prozent der Franzosen. Die Reformgegner können sich auf eine klare Mehrheit stützen. Sogar Autofahrer, die in Carvin (Nordfrankreich) in eine Straßensperre der Fernfahrer geraten sind, rufen den Streikenden Durchhalteparolen zu.

Ein Flugblatt der CGT verweist auf den Umstand, dass die französischen Großfirmen für das abgelaufene Jahr 56,5 Milliarden Euro an Dividenden an Aktionäre ausschütten. "Die verdienen ihr Geld im Schlafen – und wir sollen länger arbeiten!", schimpft CGT-Mann Benjamin Amar in einer Talkshow. Der Moderator sagt, er teile seine Ansicht, obwohl er sonst für die liberale Marktwirtschaft sei.

Insgesamt schlagen die Gewerkschafter jedoch, so entschlossen sie auch sind, diesmal einen betont ruhigen Ton an. Laurent Berger von der CFDT und Philippe Martinez von der CGT, die für einmal am gleichen Strang ziehen, wollen die schweigende Mehrheit, die sie hinter sich stehen haben, nicht aufs Spiel setzen.

Massive Mobilisierung

Vorläufig trumpfen die Reformgegner auf: Am Dienstagnachmittag gingen in über 300 Städten und Orten schätzungsweise mehr als eine Million Menschen auf die Straße. Eine eindrucksvolle Mobilisierung, und dies schon zum fünften Mal seit Jänner. "Rückzug der Reform und Rückzug Macrons", steht auf einem Transparent.

Aber es gibt auch andere Szenen: In Rennes randalieren Vermummte; sie zerstören Läden, schmieren ihre Devise "Krawall" auf Hausmauern und liefern sich mit der Polizei Straßenschlachten. Solche Bilder schaden allerdings der Protestbewegung. Und wenn Macron hart bleibt, ist mit einer weiteren Radikalisierung zu rechnen.

Prophylaktisch schieben sich Regierung und Gewerkschaften bereits gegenseitig die Verantwortung zu. In Paris ruft ein Graffiti zur "révolution" auf – in Frankreich ist das keine leere Floskel. (Stefan Brändle aus Paris, 8.3.2023)