Die Kunstkuratorin Guslagie Malanda spielt die wegen Kindsmords angeklagte Senegalesin Laurence Coly eindrucksvoll.

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Die Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame), das Alter Ego Alice Diops, beobachtet den Prozess.

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Das französische Kino findet sich derzeit häufig im Gerichtssaal wieder. Ob das damit zu tun hat, dass Frankreich derzeit, ähnlich wie die USA, Schauplatz kulturpolitischer Kämpfe ist, in denen vor allem die Bewertung von Opfer- und Täterschaft zur Debatte steht? Konkret wurde dies im Februar bei den französischen Filmpreisen, den Césars. Diese gingen heuer erstmals in Abwesenheit all derjenigen Branchenangehörigen über die Bühne, die wegen eines Sexualdelikts angezeigt sind oder verurteilt wurden.

Das war unter anderem Resultat eines Protests der Schauspielerin Adèle Haenel im Jahre 2020, als Roman Polanski mit seinem Justizdrama Intrige reüssierte. Polanski wurde Ende der 1970er-Jahre in Kalifornien wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilt, entzog sich jedoch seiner Strafe, indem er sich nach Frankreich absetzte. Weitere Vergewaltigungsvorwürfe stehen gegen ihn im Raum. Heuer also durften neben Polanski einige andere Filmbranchenvertreter nicht an der Zeremonie teilnehmen. Die französische Filmakademie hat sich auf der Seite der Opfer positioniert. In Frankreich wurde dies kontrovers diskutiert.

Vor Gericht im Kino: Vor allem Frauen

Angesichts dessen ist es sicherlich kein Zufall, dass der Gerichtssaal im französischen Kino gerade ein beliebter Schauplatz ist. Justitia bekommt im Kino immer dann einen Logenplatz, wenn soziale Umbrüche im Gange sind. Das Gericht im Kino ist dann Ort der Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen, den blinden Flecken und strukturellen Ungerechtigkeiten des Rechtssystems. Gerade #MeToo hat hier als Katalysator gewirkt.

Erst jüngst etwa in Menschliche Dinge, dem Familienprojekt der Attal-Gainsbourgs, worin ein klassisches "He said / She said"-Vergewaltigungsszenario durchgespielt und mit der Tatsache gewürzt wird, dass der Angeklagte aus sehr gutem Hause und die Klägerin aus einer streng gläubigen Familie stammt. Da ist der Staatsanwalt schon einmal parteiisch. Im Mai wiederum kommt Die Gewerkschafterin in die Kinos, worin Isabelle Huppert eine attackierte Frau spielt, deren Anzeige vor Gericht nicht standhält. Eine völlig andere Rolle spielt Huppert in François Ozons in den 1930er-Jahren angesiedelter Komödie Mon Crime. Darin geht es um Frauen, die sich mit Screwball-Verve vor Gericht verbünden und den Trend des Männermordens salonfähig machen. Es fällt auf: Auf dem Prüfstand des Tribunals steht derzeit auffallend oft die Glaubwürdigkeit von Frauen.

Ein Kindsmord nach einer wahren Begebenheit

Ganz anders verhält es sich im vielleicht besten aktuellen Gerichtsfilm aus Frankreich. Saint Omer von Alice Diop basiert auf einem Kriminalfall von 2013. Fabienne Kabou, eine aus dem Senegal stammende Philosophiestudentin, wurde wegen Kindsmordes verurteilt. Sie ließ ihr damals 15-monatiges Baby an einem Strand in Nordfrankreich zurück, die Flut schwemmte es davon. Wegen seiner mythischen Seite, der Tatsache, dass der Kindsvater ein um vieles älterer Pariser Künstler war, und nicht zuletzt, weil die Angeklagte sich überaus gewählt ausdrückte, erhielt die "Kabou-Affäre" viel Aufmerksamkeit. Auch die Dokumentaristin Diop war damals im Gerichtssaal anwesend.

Diese Erfahrung nimmt Diop in ihrem ersten Spielfilm zum Anlass für eine präzise Studie über afrikanisch-französische Weiblichkeit und Mutterschaft im Auge der öffentlichen Wahrnehmung und Urteilsbildung. Hier heißt die Angeklagte Laurence Coly (Guslagie Malanda). Sie migrierte als junge Erwachsene für das Studium nach Frankreich, lebte zuerst bei ihrer Tante, dann bei ihrem Liebhaber und verließ kaum das Haus.

GRANDFILM

Medea und Hexerei

Jetzt steht sie vor Gericht, statuesk und klar artikulierend wie in einem antiken Drama und bricht damit mit dem Stereotyp der afrikanischen Einwanderin. Aus dem Publikum wird sie von einer anderen schwarzen Frau betrachtet, der Schriftstellerin und Uni-Dozentin Rama (Kayije Kagame), die gerade an einer Modernisierung des Medea-Mythos arbeitet.

Rama lauscht Laurence’ Ausführungen aufmerksam: Über die Kindheit im Senegal, die strenge Mutter und den ehrgeizigen Vater, über die Beziehung zu dem fast schon greisen Pariser Künstler, der sie nicht in seine Kreise integrierte, über ihre Tat am Strand, die sie sich nur mit Hexerei erklären könne. Beide afrikanischstämmigen Französinnen hadern mit ihrer Rolle als gebildete Frau und (künftige) Mutter ebenso, wie sie mit der als Tochter ehrgeiziger oder emotional abwesender Mütter zu kämpfen hatten.

Im bühnenhaft kunstvoll ausgeleuchteten Gerichtssaal dokumentiert Diop schließlich nicht einfach den realen Fall Kabou, sondern inszeniert eine komplexe Spiegelung zweier Frauen, der Verflechtungen ihrer Lebenswege und der Anforderungen, die das Mutter- und Tochtersein an sie stellt. (Valerie Dirk, 8.3.2023)