Londons Pläne, Asylsuchende ohne Rückkehrmöglichkeit nach Ruanda zu verfrachten, hatte schon letztes Jahr für massive Kritik gesorgt. Am Dienstag ging die britische Regierung noch einen Schritt weiter. Innenministerin Suella Braverman brachte im Unterhaus ein neues Gesetz ein, laut dem allen illegal eingereisten Migrantinnen und Migranten das Recht entzogen wird, Asyl zu beantragen.

Stattdessen sollen sie ohne richterliche Prüfung bis zu 28 Tage festgehalten werden dürfen, etwa in einstigen Militärbasen oder Studierendenheimen. Danach ist die Abschiebung eben nach Ruanda oder in andere mögliche Partnerländer geplant. Erst dort darf ein Asylantrag gestellt werden, eine Rückkehr auf die Britischen Inseln ist aber auch nach einem positiven Bescheid nicht vorgesehen.

Ausnahmen möglich

Ausnahmen gibt es für Minderjährige, gesundheitlich Angeschlagene, denen der Flug nicht zuzumuten ist, sowie jene, denen bei einer Abschiebung in den betreffenden anderen Staat Gefahr droht. Doch auch in diesen Fällen soll über ihren Antrag binnen 45 Tagen entschieden werden. Heikel wird es dabei schon bei der letzten Ausnahmemöglichkeit, denn wer prüft wie, ob jemandem im Zielland Gefahr droht, wenn das Asylverfahren erst später starten soll? Wobei da dann auch die Frage zu stellen ist, wie geregelt und fair dieses Verfahren in Ruanda dann wäre.

Im Ärmelkanal Gerettete werden an Land gebracht.
Foto: AFP/BEN STANSALL

Dass diese Pläne von Labour-Opposition, UNHCR ("Käme einem Asylverbot gleich") und NGOs wie Amnesty International oder dem britischen Roten Kreuz scharf kritisiert werden, war erwartbar. Um dies halbwegs abzufangen, erklärte Innenministerin Braverman vorab: "Wir haben die Grenzen des internationalen Rechts ausgereizt, um diese Krise zu lösen." Mit Krise ist die steigende Anzahl jener gemeint, die mit Booten über den Ärmelkanal ins Königreich gelangen. 2022 wurden 45.755 Ankünfte registriert, etwa 60 Prozent als im Jahr davor. Heuer sind es bislang an die 3.000.

Hoffen auf die Justiz

Labour-Chef Keir Starmer glaubt im Gegensatz zu Innenministerin Braverman nicht, dass die Pläne der Regierung von Premier Rishi Sunak vor den Gerichten halten werden, und das ist wohl auch die große Hoffnung der Kritiker: dass die Justiz wie im vergangenen Jahr rechtzeitig einschreitet.

Zur Erinnerung: Im Juni 2022 war der erste Abschiebeflug von Großbritannien nach Ruanda geplant. Britische Gerichte gaben ihren Sanktus, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ordnete quasi in letzter Sekunde in einer seiner seltenen Interventionen die Aussetzung des Fluges an, da ein "echtes Risiko von irreversiblem Schaden" bestehe.

Zuerst, so das Gericht in Straßburg, sollte das britische Höchstgericht klären, ob diese Abschiebungen wirklich rechtmäßig sind, sprich, ob die Abgeschobenen Zugang zu fairen Verfahren in Ruanda haben und das afrikanische Land als sicher eingestuft werden kann. Denn von dort gibt es zahlreiche Berichte über Folter als staatlich eingesetzte Methode gegen politische Oppositionelle und außergerichtliche Tötungen.

Abschiebeflüge frühestens im Sommer

Am 19. Dezember 2022 erklärte der High Court die Ruanda-Pläne der Regierung für rechtmäßig, verfügte aber, dass jeder Einzelfall genau geprüft werden müsse. Im Jänner wurde einem Antrag auf Berufung stattgegeben, nun liegt der Fall beim Court of Appeal. Die ersten Flüge kann es damit frühestens im Sommer geben.

Auch beim neuen Asylvorstoß der britischen Regierung kann es noch lange dauern, bis er tatsächlich umgesetzt wird. Vor allem im britischen Oberhaus wird mit großem Widerstand gerechnet. Beobachter rechnen mit Monaten, bis das Gesetz vom Parlament abgesegnet wird.

Dann erst kommt es wohl wie beim Ruanda-Plan zum juristischen Kampf. Im Zentrum wird dann einmal mehr der EGMR stehen, der darauf achtet, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) eingehalten wird. Großbritannien ist als eines von 46 Ländern Mitglied des Europarats und damit auch Vertragspartei der EMRK. Russland wurde vor einem Jahr aufgrund des Ukrainekrieges übrigens ausgeschlossen.

Die EMRK wurde 1998 ins britische Recht übernommen. Darin legt Artikel 3 fest: Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Auf die britischen Pläne umgemünzt: Wenn in Großbritannien gar nicht geprüft wird, in was für eine Situation Menschen im Falle einer Abschiebung in ein anderes Land versetzt werden, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass dort das Folterverbot verletzt wird.

Austritt aus der EMRK?

Möglich wäre also, dass Fälle im Zuge der Durchsetzung der neuen Gesetze wieder vor dem EGMR landen werden. Um dies zu verhindern, könnte Großbritannien aus der EMRK austreten. Rund um den Ruanda-Plan hatte die Regierung in London dies letztes Jahr noch abgelehnt, wohl den internationalen Reputationsschaden für das Land fürchtend.

Von dieser Position scheint man nun abgerückt zu sein. Laut "Sunday Times" sei Premier Sunak bereit, als letzte Lösung aus der Konvention auszutreten. Ähnliches hat auch Ex-Wohnbauminister und nun Tory-Abgeordneter Simon Clarke im Parlament gesagt: Wenn das Gesetz von der EMRK blockiert werde, müsse man eben aus der EMRK austreten.

Tritt Großbritannien aus dem Europarat aus, verlässt es automatisch auch die EMRK. Andererseits könnte London aus der EMRK austreten, aber im Europarat verbleiben. Der Imageschaden wäre aber so oder so enorm. Im November 2022 wurde übrigens auch in Österreich über einen möglichen EMRK-Austritt diskutiert, angestoßen wurde die Debatte von der ÖVP.

Parallelen zu Australien

UNHCR und der britische Flüchtlingsrat monierten außerdem, dass mit dem neuen Gesetz auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen werde. Das hat aber Australien Anfang der 2000er-Jahre nicht davon abgehalten, eine ähnliche Regelung durchzusetzen. Auf hoher See abgefangene Bootsflüchtlinge werden in Internierungslager auf kleinen Inselstaaten im Pazifik gebracht. Von dort gibt es in der Regel keine Möglichkeit, nach Australien zu kommen.

Rishi Sunak am Dienstag bei der Pressekonferenz.
Foto: Reuters/Leon Neal

Einer der Kernslogans der international umstrittenen australischen Asylpolitik lautete "Stop the boats". Und es mag wohl kein Zufall gewesen sein, dass Rishi Sunak am Dienstag eine Pressekonferenz zu den neuen Asylplänen veranstaltete, während vorne auf seinem Rednerpult stand: "Stop the boats." (Kim Son Hoang, 8.3.2023)