Gründerzeitviertel oder kein Gründerzeitviertel? Das Richtwertsystem mit seinem Lagezuschlag sorgt mittlerweile für nachgerade grotesk wirkende Gutachter-Streitigkeiten vor Gericht.

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Der Druck auf die Regierung steigt: Wifo-Chef Gabriel Felbermayr bekräftigte in der ORF-"ZiB 2" vom Dienstag, dass eine Mietpreisbremse in Form von zumindest einer Verteilung der 8,6-prozentigen Anhebung auf zwei Jahre aus seiner Sicht absolut sinnvoll wäre. Und die SPÖ, der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) sowie die Arbeiterkammer (AK) und andere Mieterschutzorganisationen pochen ohnehin seit vielen Wochen darauf, die Bremse anzuziehen.

Dabei geht es, wie schon häufig erwähnt, vorrangig um die Richtwertmieten im Altbau. Doch was ist das überhaupt, das Richtwertsystem? Und wird alles gut, wenn man nur die Inflationsanhebung drosselt? Spoiler: Nein.

Erfunden im Jahr 1994

Ein Blick zurück: Das Richtwertsystem wurde 1994 als eigenes Gesetz neben dem Mietrechtsgesetz (MRG) eingeführt. Es gilt seither bei der Vermietung von Altbauwohnungen und sollte eigentlich die Auswüchse des Marktes, die eine OGH-Entscheidung aus Mitte der 1980er-Jahre hervorbrachte, wieder ein wenig eindämmen. Mit dem Lagezuschlag kam allerdings auch wieder eine "marktadäquate" Regelung in Spiel. Doch dazu später.

Im Vorfeld des Beschlusses von 1994 hatte das Justizministerium die Bundesländer beauftragt, die jeweils durchschnittlichen Grund- und Baukosten zu erheben, und zwar nach einer genauen Anleitung. Doch die Bundesländer rechneten höchst unterschiedlich. Vorarlberg meldete beispielsweise gleich die Obergrenze der förderbaren Baukosten je Quadratmeter, das waren damals 22.000 Schilling. Wien meldete zwar auch genau diese Obergrenze, in der Bundeshauptstadt waren das aber nur 14.600 Schilling.

Vorarlberg rechnete großzügig

Davon abgezogen wurden dann etwa die Kosten für die Schaffung eines Stellplatzes – auch diese gestalteten sich höchst unterschiedlich, allerdings nicht überall: Im Burgenland, in Oberösterreich und in Salzburg zog man dafür nichts ab. An den Kosten des geförderten Wohnbaus orientierte man sich deshalb, weil man kaum verlässliche Daten des freifinanzierten Wohnbaus zur Verfügung hatte.

Von dem solcherart erhobenen Betrag wurde der jeweilige Richtwert pro Bundesland ermittelt. In Vorarlberg lag er wenig überraschend am höchsten, denn neben den höchsten Baukosten hatte man dort auch die höchsten Grundkosten ermittelt. Im Burgenland hingegen kam der niedrigste Richtwert von allen Bundesländern heraus, in Wien der zweitniedrigste. Dieser Umstand sorgt heute noch sehr oft für Kritik vonseiten der Immobilienwirtschaft.

50,40 Schilling in Wien

Hätte man den Wiener Richtwert so berechnet, wie es die Vertreter der Immobilienwirtschaft für richtig erachtet hätten, dann wäre ein um rund 60 Prozent höherer Richtwert herausgekommen: 79,40 statt 50,40 Schilling je Quadratmeter. Das wäre übrigens mehr gewesen, als man im Land Vorarlberg für das eigene Bundesland errechnet hatte (77,40 Schilling). Ein kaum verhohlener politischer Wunsch war damals aber in Wien (und auch in Niederösterreich, wie erzählt wird) die Orientierung an der 50-Schilling-Schallmauer; dementsprechend wurde in der Wiener Beiratssitzung vom 3. Februar 1994 auch abgestimmt.

Der erste Wiener Richtwert wurde also mit 3,66 Euro festgesetzt, wenn man den erst etwas später beschlossenen Schilling-Euro-Umrechnungskurs anwendet. In Niederösterreich kamen 3,76 Euro heraus (51,70 Schilling), in Vorarlberg 5,62 Euro (77,40 Schilling). Der Richtwert im Ländle war also der höchste, jener im Burgenland mit 3,34 Euro bzw. 46 Schilling der niedrigste.

Evaluierung fand nicht statt

Und eigentlich sollten die Richtwerte regelmäßig auf ihre Plausibilität überprüft und im Bedarfsfall auch angepasst werden, das heißt, das Verhältnis der Richtwerte zueinander hätte sich ändern können. Hätte, denn mit der Wohnrechtsnovelle 2000 wurde diese vorgesehene Korrekturmöglichkeit der Richtwerte erheblich eingeschränkt, und 2006 wurde dann auch der dafür zuständige Beirat endgültig aufgelöst. Man war der Meinung, dass die Richtwerte mittlerweile "nicht nur in den betroffenen Bevölkerungskreisen, sondern auch aufseiten der Politik allgemeine Akzeptanz erfahren" würden. So stand es im Deregulierungsgesetz 2006, die Auflösung des Beirats wurde damals auch als Sparmaßnahme angesehen.

Insbesondere der Wiener Richtwert wurde also zunächst so niedrig wie möglich gehalten und später dann auch nie angepasst. Immer noch hat Wien mit nun 6,15 Euro den zweiniedrigsten Wert hinter dem Burgenland und damit die zweitniedrigste Ausgangsbasis für die Berechnung der Altbaumieten.

Das Gwirks um den Lagezuschlag

Doch der Richtwert ist eben nur die Basis. Das Richtwertsystem sieht Zu- und Abschläge vor, etwa für das Vorhandensein eines Lifts oder eines Balkons. Mieterschützer klagen oft, dass die Zuschläge häufig und ausgiebig, die Abschläge aber kaum jemals oder jedenfalls nur sehr eingeschränkt zur Geltung kommen.

Und dann wäre da noch der Lagezuschlag. Er sollte, wie schon erwähnt, eine gewisse "Marktkomponente" ins System bringen: je besser die Lage, desto höher der Lagezuschlag auf den Richtwert. Allerdings war bzw. ist das immer noch nicht überall möglich. Das Richtwertgesetz schreibt nämlich einerseits vor, dass für die Verrechnung eines Lagezuschlags eine Lage "besser sein muss als eine durchschnittliche Lage", und andererseits steht in dem Gesetz auch, dass eine Lage in einem sogenannten Gründerzeitviertel höchstens eine durchschnittliche Lage sein kann. Dieses sogenannte Lagezuschlagsverbot im Gründerzeitviertel ist sehr umstritten, weil es im Endeffekt auch für topsanierte Gründerzeit-Zinshäuser in Gründerzeitvierteln keinen Lagezuschlag erlaubt.

Wettstreit der Gutachten

Aus Gründen wie diesem entbrannte in den vergangenen Jahren ein erbitterter Kampf um das Gründerzeitviertel. Vermieterinnen und Hausverwaltungen begannen schon vor längerer Zeit, Entscheidungen der Schlichtungsstelle und der Gerichte mit Gutachten zu bekämpfen, in denen oft akribisch und Haus für Haus der Beweis angetreten wird, dass sich eine bestimmte Adresse nicht mehr in einem Gründerzeitviertel befindet.

Die Mietervereinigung Österreichs (MVÖ) berichtete erst im Dezember auf ihrer Website von einem solchen regelrecht absurd anmutenden Rechtsstreit rund um eine Altbauwohnung unweit des Elterleinplatzes im 17. Bezirk. Dort waren bisher nicht weniger als vier (!) Gutachten notwendig, um die Frage "Lagezuschlag oder kein Lagezuschlag" vom Gericht zu klären.

Laut Lagezuschlagskarte der Stadt Wien, die bis vor kurzem in regelmäßigen Abständen herausgegeben wurde, wäre die betreffende Lage eigentlich in einem Gründerzeitviertel, also in einer durchschnittlichen Wohnumgebung. Doch der Vermieter hatte ein Gutachten beauftragt, in dem festgestellt wurde, dass es sich einerseits um eine überdurchschnittliche Lage handle, weil sich "alle wesentlichen Infrastruktureinrichtungen im unmittelbaren Nahebereich" befinden würden. Andererseits hatte sich der Gutachter Block für Block, Haus für Haus angesehen und so ein Gebiet abgesteckt, in dem von 29 Gebäuden nur vier Gründerzeithäuser im Sinne des Richtwertgesetzes waren.

Das Bezirksgericht warf das Gutachten aber zurück, weil der Gutachter einen Planausschnitt gewählt hatte, in dem das fragliche Haus nicht einmal enthalten war. Nach zwei weiteren Gutachten kam das Bezirksgericht zu dem Schluss, dass kein Lagezuschlag eingehoben werden dürfe. Doch im Rekursverfahren zweifelte das Landesgericht an dem Urteil, weil – wie der OGH 2019 entschieden hatte – Gebäude, die vor 1870 errichtet wurden, nicht als Gründerzeithäuser zählen dürfen.

Stadt Wien wartet auf VfGH-Entscheid

Das ist zwar ein besonders krasser Fall, der aber zeigt, wie umkämpft die Lage ist. Selbst die Stadt Wien hat mittlerweile mehr oder weniger vor der Situation kapituliert: Die angesprochene Lagezuschlagskarte gibt es nicht mehr. Diese Karte war zuvor regelmäßig upgedatet worden (meistens dann, wenn neue Richtwerte verlautbart wurden). Nach sehr viel Aufregung im Jahr 2018 hatte sie schon einmal auf Kritik von Mieterschützern reagiert und klar ausgewiesen, dass es sich bei den Werten auf der Karte um Höchstzuschläge handle. 2022 gab es dann aber keine neue Karte mehr, denn die ausgewiesenen Maximalwerte, die sich an aktuellen Grundstücksdeals errechneten, waren unter anderem auch durch den Zinshausboom der jüngeren Vergangenheit extrem nach oben getrieben worden. Richtwert und Lagezuschlag übersteigen im ersten Bezirk mittlerweile deutlich die 20-Euro-Marke, das heißt, die eigentlich als gedeckelt anzusehende Richtwertmiete erreicht dort Marktniveau. In Gegenden rund um die Innenstadt verdoppelt der Lagezuschlag den Richtwert.

Die Stadt stellte im Vorjahr auch ihre Richtwert- und Lagezuschlagsrechner ein, sie werden online nicht mehr angeboten, und zwar "aufgrund eines anhängigen höchstgerichtlichen Verfahrens", wie es auf der entsprechenden Website der Stadt heißt. In diese Normprüfung des Lagezuschlags seitens des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), die von der stadteigenen Mieterhilfe (die zur MA 50 gehört) angestrengt wurde, setzt man nun große Hoffnungen.

Das System schreit nach einer Reform

Dass sich der VfGH noch in der März-Session damit befassen wird, steht fest. Und es könnte durchaus sein, dass dann kein Stein auf dem anderen bleibt.

So oder so ist das Richtwertsystem in höchstem Maß reformbedürftig. Das ist der Politik auch bestens bekannt. Doch die schon länger geplante grundsätzliche Reform des Mietrechts wird leider noch länger auf sich warten lassen. (Martin Putschögl, 9.3.2023)