Wenn es stimmt, hat es das Potenzial zum größten technischen Durchbruch der letzten Jahrzehnte – eine Entdeckung, die "jeden Bereich unseres Lebens verändern" könnte, wie Fachleute betonen. Doch das Ergebnis, das nun im Fachjournal "Nature" publiziert wurde, ist umstritten, was nicht zuletzt das Autorenteam durch Fehler in der Vergangenheit selbst zu verantworten hat.

Durch das stabile Magnetfeld des reibungsfrei kreisenden Stroms kann eine Pille aus supraleitendem Material schweben.
Foto: University of Rochester photo / J. Adam Fenster

Worum geht es? Ein Forschungsteam der Universität Rochester im US-Bundesstaat New York, das sich seit vielen Jahrzehnten mit dem Thema befasst, hat ein neues Material gefunden, das laut der nun veröffentlichten Studie bei Raumtemperatur und moderatem Druck supraleitend wird. Die Substanz ist eine Verbindung aus den Elementen Wasserstoff, Stickstoff und dem zu den seltenen Erden gehörenden Metall Lutetium, benannt nach dem lateinischen Namen für Paris. Supraleitend wird sie nach denen neuen Daten bei 21 Grad Celsius und einem Druck von einem Gigapascal, umgerechnet 10.000 Bar.

Mehr Druck als im Marianengraben

Letzteres klingt nicht nach "moderatem" Druck, ist aber nur etwa das Zehnfache des Drucks an der tiefsten Stelle des Marianengrabens und erheblich weniger als in bisherigen Experimenten. Es würde genügen, um das Tor für völlig neue technische Anwendungen zu öffnen.

Zur Erzeugung des Materials, das zu den Hydriden zählt, setzte das Team eine dünne Schicht aus Lutetium einem Gasgemisch aus 99 Prozent Wasserstoff und einem Prozent Stickstoff aus, um es danach bei 200 Grad Celsius zu "backen". Daraufhin übte ein Hammer aus Diamant einen Druck von zwei Gigapascal aus. Langsam wurde der Druck verringert und dabei immer wieder die Eigenschaften überprüft. In einigen Dutzend der hunderten Proben ließ sich auch bei einem Druck von einem Gigapascal immer noch Supraleitung nachweisen.

Die Probe wird zwischen zwei Diamanten hohem Druck ausgesetzt.
Foto: Dias Lab

Der Nachweis selbst folgte einem Standardprocedere, das mehrere Kriterien überprüft, darunter die Beobachtung des markanten Abfalls des elektrischen Widerstands und eine Veränderung der Wärmeleitfähigkeit. Außerdem ließ sich die Veränderung des Magnetfeldes um die Proben nachweisen. Sogar die Farbe veränderte sich.

Zweifel an der Glaubwürdigkeit

Doch während ein Teil der Forschungsgemeinschaft sich euphorisch zeigt, mahnen viele Fachleute zur Vorsicht. Zuerst müsse das Ergebnis von einer anderen Gruppe reproduziert werden, wie es gute wissenschaftliche Praxis ist.

Es gibt aber noch grundlegendere Zweifel, die deutlich schwerer wiegen. Die nun in "Nature" erschienene Arbeit ist nicht die erste ihrer Art. Bereits 2020 berichtete das Team aus Rochester von der Entdeckung eines Supraleiters, der bei Raumtemperatur funktioniert. Allerdings war der nötige Druck mit 267 Gigapascal um ein Vielfaches höher.

Während auch damals das Interesse an der Arbeit groß war, führten Überprüfungen der vom Team publizierten Daten zu Unstimmigkeiten. Einer der Vorwürfe lautete, dass nachträglich zur Verfügung gestellte Rohdaten der Experimente gefälscht gewesen seien. Die aufgedeckten Fehler des Teams gipfelten darin, dass das Paper erst im September 2022 zurückgezogen werden musste.

Eine Probe des neuen, supraleitenden Materials. Beim Übergang zur Supraleitung färbt es sich rot, berichtet die Forschungsgruppe.
Foto: University of Rochester photo / J. Adam Fenster

Umso bemerkenswerter ist, dass dasselbe Team nun im selben Magazin ein noch spektakuläreres Ergebnis publiziert. Es ist anzunehmen, dass beide Seiten diesmal mit besonderer Vorsicht vorgegangen sind.

Zudem hat das Team um Erstautor Ranga Dias auch das zurückgezogene Paper in korrigierter Form neu eingereicht. Die Ergebnisse seien korrekt, beteuert der Forscher. Allerdings gelang es bislang nicht, die Ergebnisse von 2020 zu reproduzieren. Am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz war das versucht worden. Dort gelang 2015 ein wichtiger Durchbruch, als eine Gruppe um Mikhail Eremets zeigen konnte, dass Schwefelwasserstoff bei −70 Grad Celsius supraleitend wird, allerdings bei Drücken von 150 Gigapascal, umgerechnet 1,5 Millionen Bar.

Ein neuerliches Scheitern kann sich jedenfalls nicht nur die Gruppe um Dias nicht leisten, auch für das Journal "Nature" wäre das mit einem nie dagewesenen Imageschaden verbunden. Es steht also viel auf dem Spiel.

Die Gruppe aus Rochester erklärt ihre Arbeit hier in einem Video.
University of Rochester

Ein hundert Jahre alter Traum

Lassen sich die Angaben bestätigen, ist es wohl der Durchbruch, von dem Forschende seit Entdeckung der Supraleitung geträumt haben, beginnend mit ihrem Entdecker Heike Kamerlingh Onnes, der im Jahr 1911 herausfand, dass der elektrische Widerstand in Quecksilber bei einer Temperatur von 4,2 Grad über dem absoluten Nullpunkt plötzlich verschwindet. Seither hat die Forschung unzählige Fortschritte gemacht, verschiedenste supraleitende Materialien entdeckt und den Effekt bei immer höheren Temperaturen demonstriert. Die Technologie des reibungsfrei fließenden elektrischen Stroms hat inzwischen in verschiedenen Bereichen Anwendung gefunden, vor allem wenn es um das Erzeugen extrem starker Magnetfelder geht.

Doch der Traum eines Supraleiters, der bei Raumtemperatur funktioniert, erfüllte sich nicht, am Kernforschungszentrum Cern etwa, wo intensiv wie nirgendwo sonst Gebrauch von Supraleitern gemacht wird, schwimmen die tausenden Magnetspulen aus einer Niob-Titan-Legierung, die für das Bündeln und Ablenken des Protonenstrahls sorgen, in Tonnen von flüssigem Helium, das bei einer Temperatur von 1,9 Grad über dem absoluten Nullpunkt gehalten werden muss. Wo immer ein solcher Aufwand nicht möglich ist, fließt elektrischer Strom nach wie vor in Kupferleitungen und erzeugt Abwärme, die verloren geht.

Theoretisch nicht erwartet

Kamerlingh Onnes erkannte bereits das Potenzial von reibungsfrei fließendem elektrischem Strom für die Technik. Heute ist der Haupteinsatzbereich von Supraleitung die Medizin. Magnetresonanztomografen machen etwa 80 Prozent des Umsatzes aus, der mit Supraleitung erwirtschaftet wird – trotz der technischen Einschränkungen durch die niedrigen Temperaturen.

Nun, fast hundert Jahre nach seinem Tod, könnte sich der Traum vom Supraleiter, der bei Raumtemperatur einsetzbar ist, doch noch erfüllen – wenn denn die Zahlen stimmen. Zweifel daran kommen auch von Gruppen, die sich mit theoretischer Modellierung von Supraleitung befassen. Aus theoretischer Sicht ist Supraleitung eines solchen Materials bei den behaupteten Temperaturen und Drücken nämlich nicht zu erwarten, sondern wäre eine große Überraschung, sagt etwa die Physikerin Lilia Boeri, die in Rom forscht, gegenüber "Science News".

Studienleiter Ranga Dias rechtfertigt sich gegenüber dem "Quantamagazine" so: "Man kann die Belege entweder glauben oder nicht. Nur ignorieren lassen sie sich nicht." Das große Echo unter Fachleuten und Medien scheint ihm recht zu geben. (Reinhard Kleindl, 9.3.2023)