Spielten zusammen Bizet: Daniel Barenboim und Martha Argerich.

Nagl

Im vergangenen Sommer, bei den Salzburger Festspielen, wirkte Daniel Barenboim fragil. Es war unübersehbar, dass der Dirigent um seine gewohnte Form zu kämpfen hatte. Mittlerweile hat Barenboim selbst Klarheit geschaffen. Es habe ihn eine komplexe neurologische Erkrankung geschwächt, er könne in Hinkunft sein bisheriges imposantes Arbeitspensum nicht mehr erfüllen. Der Dirigent hat denn auch die musikalische Leitung der Staatsoper Berlin aufgeben müssen.

Offenbar geht es ihm mittlerweile besser. Der 80-Jährige, als dessen Nachfolger an der Berliner Staatsoper Unter den Linden u. a. Christian Thielemann, Antonio Pappano und auch Tugan Sokhiev gehandelt werden, ist zurück im Klassikbetrieb. Zuletzt sprang er sogar bei Konzerten des Orchesters der Mailänder Scala für Daniel Harding ein.

Lange Partnerschaft

Den Weg zum Arbeitsplatz geht Barenboim im Wiener Musikverein zwar vorsichtiger als früher. Auch nimmt er die Dienste eines Dirigentenstuhls in Anspruch. Es sind allerdings Nebensächlichkeiten, wenn die Staatskapelle Berlin, mit der Barenboim seit mittlerweile über 30 Jahren arbeitet, die abstrakte Schönheit von Pierre Boulez’ Livre pour cordes als intime Streicherelegie mit kurzen dramatischen Pointen zelebriert.

Mit der Freundin

Und wenn Barenboims Freundin seit Kindertagen in Argentinien, Martha Argerich, bei Franz Liszts erstem Klavierkonzert impulsiv zeigt, was gestalterische Leichtigkeit sein kann, wird die Bühne des Goldenen Saals am Dienstag zum dichten Energiefeld. Argerich gestaltet nach Belieben.

Im Diskant legt sie es gerne schrill an, als wollte sie dem Orchester ein paar pointierte Rufzeichen entgegenschmettern. Dennoch herrscht Ausdrucksvielfalt: Da sind jene tausendfüßlerartigen Läufe, die gerne auch sanft einherperlen. Da sind aber auch jene kammermusikalisch wirkenden Dialoge mit dem Klangkörper. Es ist zu vernehmen, wie symphonisch und unorthodox Komponist Liszt den Orchesterpart mit dem virtuosen Klavierpart verzahnt hat.

Diskrete Zugabe

Die Zugabe ist dann denkbar unprätentiös: Barenboim zeigte mit Argerich bei George Bizets Stück Petit Mari, Petite Femme aus Jeaux d’Enfants op. 22, wie Musikalität über kleine Patzer hinwegtrösten kann.

Hector Berlioz’ Symphonie fantastique? Nach poetischem Beginn werden die Episoden aus dem Leben eines Künstlers zum exzessiven orchestralen Farbspiel mit Tendenz zu robuster Akzentuierung. Ob Der Gang zum Richtplatz oder der Hexensabbat – es dominiert grelle Unmittelbarkeit. Barenboim lässt sein Orchester manche Phrasen bisweilen individuell bis ins Groteske steigern. Die Staatskapelle ist mit Vehemenz bei der symphonischen Sache. Die Programmmusik erlangt in Summe recht straffe Kontur.

Es gab Standing Ovations ohne Ende für Argerich und Barenboim, der im Mai in den Musikverein mit dem Boulez Ensemble zurückkehrt. (Ljubiša Tošic, 9.3.2023)