Auch Päpste können sich irren. "Ich habe das Gefühl, dass mein Pontifikat kurz sein wird. Vier oder fünf Jahre. Ich weiß nicht, vielleicht auch nur zwei oder drei", hatte Franziskus 2015, zwei Jahre nach seiner Wahl zum Papst am 13. März 2013, gegenüber einem mexikanischen TV-Sender gesagt. Jetzt ist der Argentinier Jorge Mario Bergoglio, der erste nicht-europäische Papst der Kirchengeschichte, schon zehn Jahre Oberhaupt der katholischen Kirche. 86 Jahre alt ist Franziskus inzwischen: Das Gehen fällt ihm wegen Schmerzen in den Knien schwer; oft muss er sich im Rollstuhl bewegen. Aber ansonsten ist der Papst, wie er erst im Jänner selber bekanntgab, "bei guter Gesundheit".

Vor zehn Jahren übernahm Jorge Mario Bergoglio das Papstamt. Zum Jubiläum gibt es zahlreiche Feiern in seiner Heimat Argentinien.
DER STANDARD

Aus Anlass des zehnjährigen Amtsjubiläums im Folgenden der Versuch einer Bilanz:

Neuer Blick auf die Welt: Franziskus hat das Papstamt, das Römer Narrativ, komplett neu ausgerichtet. Das begann schon mit der Wahl seines Papstnamens: Zum ersten Mal hatte ein Papst den Mut und das Selbstbewusstsein, sich mit seinem Namen symbolisch in die Fußstapfen des Franz von Assisi zu begeben, des wichtigsten Heiligen der katholischen Kirche. Der Bettelmönch aus Umbrien, sagte Bergoglio später einmal, sei für ihn "ein Mann der Armut, der Mann des Friedens, der Mann, der die Schöpfung liebt und bewahrt. Ach, wie möchte ich eine arme Kirche für die Armen!" Das war und ist das Programm des Argentiniers, der in seiner Heimat viel Elend gesehen hatte und einen ganz anderen Blick auf die Welt nach Rom mitbrachte als seine europäischen Vorgänger. Franziskus forderte gleich nach seiner Wahl von seiner Kirche und besonders von der Kurie ein radikales Umdenken: "Die erste Reform muss die der Einstellung sein."

Immer wieder gibt es Spekulationen über einen Rücktritt des Papstes. Noch will er seinen Hut aber nicht nehmen.

Die Lepra des Papsttums: Die Mentalität, die Franziskus im Kirchenstaat antraf, hat ihm nicht gefallen. Direkt und undiplomatisch bezeichnete er den kurialen Hofstaat ein halbes Jahr nach seiner Wahl als "Lepra des Papsttums". Der Kirchenverwaltung und den Höflingen attestierte er nicht weniger als "fünfzehn Krankheiten", darunter Selbstbezogenheit, Ruhmessucht, Kritikunfähigkeit, spirituelle und geistige Abstumpfung. Beliebt hat er sich in der Kurie damit nicht gemacht. Die Bescheidenheit und Demut, die er von der Kurie fordert, lebt er den verwöhnten Prälaten selber vor: Statt wie seine Vorgänger im pompösen apostolischen Palast lebt er im vatikanischen Pilgerheim Santa Marta, wo er mit Vatikanangestellten in der Mensa essen geht. Seine Vorgänger residierten, Papst Franziskus wohnt.

Kein Blick mehr durchs Schlüsselloch: Ein Ende gesetzt hat Franziskus auch der Fixierung der Kirche auf das Sexualleben der Gläubigen. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hatten mit ihrem Beharren auf der rigiden katholischen Sexualmoral gelegentlich den Eindruck erweckt, dass es auf der Welt keine wichtigeren Probleme gebe als die Einhaltung des Keuschheitsgebots vor der Ehe und – selbst in Zeiten von Millionen Aids-Toten – den Gebrauch von Präservativen. Der Ton hat sich unter Franziskus völlig verändert: In seinem 2016 veröffentlichten Schreiben "Amoris laetitia" (Die Freude der Liebe) wendet er sich gegen eine "kalte Schreibtisch-Moral" und fordert von den Seelsorgern Verständnis und Barmherzigkeit: Moralische Gesetze seien "keine Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft". Das war wohl der bemerkenswerteste Satz, den ein Papst je zum Thema Sexualmoral geschrieben hat. Ein weiterer denkwürdiger Satz lautete: "Wer bin ich denn, um über Homosexuelle zu urteilen?"

Die Kirche bleibt im Dorf: Der Ton mag sich geändert haben, aber die Lehre als solche hat Franziskus wie seine Vorgänger nicht angetastet: Man kenne die Ansichten der Kirche, und er sei ein Sohn dieser Kirche, hielt er kurz nach seiner Wahl unmissverständlich fest. Zweimal hatte der Papst immerhin kleine Lockerungen vorgeschlagen: In "Amoris laetitia" erwähnte er die Möglichkeit, dass in bestimmten Ausnahmefällen auch wiederverheiratete Geschiedene die Kommunion empfangen könnten. Und bei der Amazonas-Synode im Jahr 2019 wollte Franziskus die Teilnehmer wegen des dramatischen Priestermangels über eine Lockerung des Zölibats diskutieren lassen – als Lösung für abgelegene Weltgegenden mit einer krassen Unterversorgung mit Priestern wie im Amazonas. So nachvollziehbar und vorsichtig die beiden Reformversuchsballone auch gewesen sein mögen: Es hagelte Kritik von den Ultra-Konservativen; Franziskus wurde, reichlich hysterisch, sogar der Ketzerei bezichtigt.

Damit die Kirche im Dorf bleibt, hat Franziskus die Reformversuche schließlich wieder aufgegeben – zumindest eine Zeitlang: Erst vor wenigen Tagen wiederholte er in einem Interview mit dem argentinischen Nachrichtenportal Infobae, dass er sich "grundsätzlich" vorstellen könne, den Zölibat für Priester aufzuheben. "Es liegt kein Widerspruch darin, dass ein Priester heiraten kann." Denn der Zölibat sei in der westlichen Kirche eine "zeitliche Vorschrift", also "provisorisch" – im Gegensatz etwa zur Priesterweihe, die "für immer" gelte.

Der Papst, ein Kommunist? Vor allem in den USA ist die dogmatische Kritik am Papst aber meist nur vorgeschoben. Es gibt eine Fraktion von rechtslastigen US-Kardinälen, die enge Verbindungen mit dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon und der religiösen Rechten unterhalten – und diese stören sich an den politischen Botschaften des Papstes. Franziskus erhebt seine Stimme regelmäßig und meist in unverblümter Sprache gegen die Auswüchse eines entfesselten Kapitalismus, Profitgier, Kaltherzigkeit gegenüber Migranten und gegen die rücksichtslose Ausbeutung und Zerstörung der Schöpfung, also der Natur. Damit ist Bergoglio in den Augen der konservativen US-Kardinäle nichts anderes als ein gefährlicher Kommunist auf dem Papstthron. Das ist blanker Unsinn: Der Pontifex aus Argentinien ist zweifellos ein sehr politischer und sozial engagierter Papst, geprägt von seiner argentinischen Herkunft, aber für totalitäre Ideologien wie den Kommunismus ist er völlig unempfänglich.

Eine evangelische Kirche ist genug: Die Rückzieher des Papstes bei der Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene und bei der Lockerung des Zölibats hatten zwangsläufig zur Folge, dass auch diejenigen enttäuscht wurden, die auf genau diese Reformen gehofft hatten. Besonders ernüchtert sind die Vertreter des "synodalen Wegs" in Deutschland, die sich auch noch weiter gehende Änderungen wünschen, etwa die Priesterweihe für Frauen. Franziskus beschied den deutschen Bischöfen, dass es "in Deutschland schon eine schöne evangelische Kirche" gebe. Das war weniger salopp gemeint als es tönte: Der Papst wollte lediglich darauf hinweisen, dass ein Eingehen auf die Vorschläge des "synodalen Wegs" direkt in eine neue Kirchenspaltung münden könnte. Als pragmatischer Jesuit weiß Franziskus, was in der katholischen Kirche möglich ist und was nicht. Die Vorschläge des "synodalen Wegs" gehören seiner Meinung nach eindeutig zur zweiten Kategorie.

Missbrauchsskandal unterschätzt: Alles in allem ist die Reformbilanz des Pontifikats nach den ersten zehn Jahren also eher durchzogen. Das gilt auch für die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche, bei der sich der Papst viel Zeit gelassen hat. Auch Franziskus hatte die Tragweite dieses Jahrhundertskandals (zu) lange unterschätzt und erst 2019 eine Missbrauchskonferenz einberufen. Immerhin: In den darauffolgenden Monaten hat Franziskus zahlreiche Gesetze erlassen, dank denen sexueller Missbrauch durch Priester weniger leicht vertuscht und besser geahndet werden kann. Als eigentlicher Durchbruch gilt vor allem die Abschaffung des "päpstlichen Geheimnisses" für Missbrauchsfälle im Dezember 2019: Seither können Diözesen auf Antrag der zivilen Strafverfolgungsbehörden selbstständig Akteneinsicht erlauben, ohne sich kirchenrechtlich strafbar zu machen.

Riesige Popularität bei den Gläubigen: Trotz der bisher eher bescheidenen Reformen, trotz der unzähligen Feinde unter den Konservativen und der Enttäuschung der Progressiven ist Franziskus bei den einfachen Gläubigen unglaublich populär, und das weit über die Konfessionsgrenzen hinaus. Die Beliebtheit des leutseligen Argentiniers hat viel mit seiner bescheidenen und unkonventionellen Art zu tun. Wenn Franziskus zum Beispiel Sehbehinderten den Segen spendet, segnet er ihren Blindenhund danach gleich noch mit. Es sind solche einfachen, rührenden und zutiefst menschlichen Gesten, seine Demut und Glaubwürdigkeit, kombiniert mit seinem enormen Charisma, die Jorge Mario Bergoglio zu einem Papst der Herzen gemacht haben. Johannes Paul II. war bei den Gläubigen ebenfalls sehr beliebt, aber er ist wie wie Joseph Ratzinger letztlich ein unnahbarer Kirchenfürst geblieben. Franziskus hat das Papstamt normalisiert und ist zum Volkspapst geworden, dem ersten der Kirchengeschichte. Und damit tut er mehr für die katholische Kirche, als es jede Reform vermocht hätte.

Und nun, Franziskus? Mit dem Tod seines Vorgängers Benedikt XVI. zu Jahresende 2022 hat, fast zeitgleich mit dem zehnjährigen Amtsjubiläum, das Pontifikat von Franziskus noch einmal neu begonnen. Der emeritierte Papst aus Bayern hatte in seinem kleinen vatikanischen Kloster wie ein unsichtbarer Schatten die ersten zehn Jahre von Bergoglios Wirken begleitet – nun ist Franziskus zum ersten Mal in seiner Amtszeit "allein zu Haus" im Vatikan. Es ist viel darüber spekuliert worden, ob und inwieweit die Gegenwart des konservativen Vorgängers, dieses einmalige Zusammenleben zweier Päpste im Vatikan, das Pontifikat von Franziskus beeinflusst haben könnte. Vielleicht wird man nie erfahren, wie es wirklich war. Aber in in einem nicht ganz unwesentlichen Punkt hat sich Franziskus bereits von seinem verstorbenen Vorgänger distanziert: Benedikt XVI. habe mit seinem Rücktritt zwar "eine Tür geöffnet", aber er sei der Ansicht, dass das Papstamt grundsätzlich auf Lebenszeit ausgeübt werde, erklärte Franziskus schon kurz nach Benedikts Tod. Mit anderen Worten: Ein erneuter Papst-Rücktritt ist damit erst einmal vom Tisch. (Dominik Straub aus Rom, 13.3.2023)