Demos begleiteten die Pandemiepolitik der Regierung. Man müsse fünf Minuten Wut aushalten, dann trete Angst zum Vorschein, sagt Minister Rauch: "Die sich permanent beschleunigende Krisenhaftigkeit – Corona, Krieg, Teuerung – hat ein fatales Grundgefühl ausgelöst."

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Zu den Menschen "da draußen" gehen – so lautet ein etwas unglücklich formuliertes Politikergelöbnis. Diesmal war es umgekehrt: Das Volk kam zum Minister – in Person langjähriger, für konstruktive Beiträge bekannter Posterinnen und Poster in den STANDARD-Foren. Dabei waren der Genetiker und Biologe Johannes Söllner, die Lektorin Bettina Dietrich, die Immobilienfachfrau Elisabeth Weinberger und der Mediator Ulrich Wanderer.

STANDARD: Nach drei von Krisen geprägten Jahren ist die Regierung die unpopulärste aller Zeiten, Landeshauptleute werden bei Wahlen reihenweise abgestraft. Wundert Sie, dass das Vertrauen der Bevölkerung in derartigem Ausmaß verloren gegangen ist?

Söllner: Eigentlich nicht, wenn man bedenkt, wie viel Angst, auch existenzieller Art, in der Pandemie im Spiel war. Das war eine Lose-lose-Situation, in der für eine Regierung kaum etwas zu gewinnen war.

Wanderer: Man konnte es fast nicht richtig machen. In meinen Augen hat der Vertrauensverlust auch nicht erst mit Corona, sondern viel früher eingesetzt.

Unverständnis über schleißig gemachte Gesetze, fehlende Pandemiepläne und skurrile Auswüchse des Föderalismus: Zum Aufarbeiten gibt es im Ministerbüro genug.
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Rauch: Wann, würden Sie sagen?

Wanderer: In dem Augenblick, als es mir vorgekommen ist, dass es nicht mehr um die Bevölkerung im Gesamten geht, sondern um Klientelpolitik. Dass Menschen aufgehusst werden, weil es kurzfristig hilft, statt gesellschaftliche Ziele zu verfolgen. Da habe ich mir gesagt: Ab sofort bin ich für mich verantwortlich, denn ich kann mich nicht mehr darauf verlassen, dass die Politik in meinem Sinne arbeitet. Aber dabei denke ich nicht an Ihre Partei.

Dietrich: Langfristiges Denken, wie es beim Klimaschutz notwendig wäre, ist verloren gegangen. Es wird ja nicht einmal mehr in Legislaturperioden gedacht, sondern gerade bis zur nächsten Umfrage. Das hat mit Jörg Haider begonnen ...

Weinberger: ... und ist dann von Wolfgang Schüssels erster schwarz-blauer Koalition und später ganz extrem von Sebastian Kurz fortgesetzt worden. Das alles hat den Boden für die Spaltung aufbereitet, die während Corona aufgebrochen ist.

Langfristiges Denken sei in der Politik schon lange vor Corona verlorengegangen, sagt die STANDARD-Userin Bettina Dietrich, Lektorin von Beruf.
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STANDARD: Bei allem, was man an Kurz kritisieren kann: Vertrauen genossen haben er und seine Regierung zu Beginn der Pandemie aber schon.

Weinberger: Aber er hat dabei von Anfang an mit der Angst gespielt, um die Leute mitzunehmen. Man denke an seine Aussage, dass jeder jemanden kennen werde, der an Corona gestorben ist.

STANDARD: Womöglich hat das im ersten Lockdown den Zweck erfüllt, dass sich alle dran gehalten haben.

Wanderer: Weil wir alle auf einem Selbsterfahrungstrip waren, in einer Situation, die man sonst nur aus Horrorfilmen kennt.

Weinberger: So ist es. Ich erinnere mich an die ersten Gerüchte, dass es zu einem Lockdown kommen wird. Was habe ich gemacht? Ich bin in ein Bergsportgeschäft gefahren und habe mir ein 30-Meter-Seil gekauft. Ich hatte ernsthaft Angst, ich muss meinen Hund vom ersten Stock in den Hof runterlassen, damit er raus darf.

Dietrich: Es war für alle neu. Ich glaube aber nicht, dass man mit Angst hantieren musste.

Rauch: Ich gebe zu: In der Anfangsphase hätte ich nicht Minister sein wollen. Bei Bewertungen im Nachhinein bin ich deshalb vorsichtig. Damals gab es keine Impfung, keine wissenschaftliche Basis zum Aufbauen. In die Köpfe hatten sich kriegsartige Bilder aus Bergamo gebrannt, wo Militärkonvois Särge abtransportierten. Eine europaweite Studie attestiert Österreich: ein guter Start, aber stark nachgelassen.

"Eine Pandemie kannst du nicht föderal bekämpfen", schließt Minister Rauch aus den letzten drei Jahren: "Es gab Verordnungen, wo Landeshauptleute – das ist kein Scherz – bis zur letzten Sekunde interveniert haben, damit die Blasmusik weiterhin üben darf."
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STANDARD: Was sind die Gründe?

Rauch: Es ist dann meiner Wahrnehmung nach kommunikativ gekippt, weil alle möglichen Akteure mitgeredet haben. Die Tiroler haben urgiert, man dürfe über den Tourismus nicht drüberfahren und so weiter. Die große Lehre lautet deshalb: Eine Pandemie kannst du nicht föderal bekämpfen. Es ist eines der zentralen Ziele des geplanten neuen Epidemiegesetzes, das zu ändern. Die nächste Regierung muss in einer solchen Situation wissen, wie Entscheidungen zu fallen haben.

STANDARD: Ist diese Erkenntnis erst gereift, seit Sie als Minister in Wien sitzen?

Rauch: Ich habe schon als Landesrat in Vorarlberg meinen Landeshauptleuten vorgehalten, dass sie Schönwetter-Föderalisten sind: Wenn die Sonne scheint, sind sie verantwortlich, wenn es regnet, ist es der Bund.

Dietrich: Seit Jahrzehnten ist das so.

Rauch: Das größte Versäumnis der Republik ist die fehlende Bundesstaatsreform. Wir sind mit zehn Millionen Einwohnern so aufgestellt wie vor 50 Jahren. Das ist nicht mehr funktionstüchtig.

Söllner: New York City, das vergleichbar viele Einwohner hat, würde nie auf die Idee kommen, jeden Bezirk eigene Corona-Regeln aufstellen zu lassen. Aber in Österreich scheint das normal zu sein. Mehr noch hat mich überrascht, dass es kein Konzept gab. Als Biologen ist mir bewusst, dass Pandemien relativ wahrscheinliche Katastrophen sind. In den letzten 20 Jahren traten zumindest drei Arten von Viren auf, die Kandidat dafür waren – wir hatten vor Corona bloß Glück. Warum hat ein Staat keine Pläne für so einen Fall in der Schublade?

Es sei klar gewesen, dass Pandemien relativ wahrscheinliche Katastrophen sind, sagt der Biologe Johannes Söllner: "Warum hat ein Staat keine Pläne für so einen Fall in der Schublade?"
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Rauch: Das müssen wir die Vorgängerregierungen fragen. Man hat sich nie darum gekümmert, nach der österreichischen Art: Es wird schon nicht so schlimm. Wir hatten nur ein Epidemiegesetz, dessen Kernbestandteil aus dem vorigen Jahrhundert stammt. Und es gibt nicht einmal die Möglichkeit für den Gesundheitsminister, auf essenzielle Daten zuzugreifen. Es brauchte Druckmittel und Verordnungen, bis die Landesspitäler endlich meldeten, wer mit welcher Krankheit dort liegt.

Wanderer: Was mich wundert: Gesetze und Verordnungen waren legistisch in einer derart schleißigen Qualität gemacht, dass einige aufgehoben wurden und Schlupflöcher boten.

Rauch: Da stelle ich mich eindeutig vor die Mitarbeiter meines Ressorts: Sie haben unter extremem Zeitdruck gearbeitet, mussten heikle legistische Abgrenzungen vornehmen – in permanenter Abstimmung mit Gott und der Welt. Es gab Verordnungen, wo Landeshauptleute – das ist kein Scherz – bis zur letzten Sekunde interveniert haben, damit die Blasmusik weiterhin üben darf.

Weinberger: Ich hoffe, all das wird in der Aufarbeitung öffentlich thematisiert– so auch der Kampf des Bundes gegen Wien, der in die Schließung der Bundesgärten in der Stadt gemündet hat.

Dietrich: Offenbar wurde das Gesundheitsministerium von der FPÖ aber auch im katastrophalen Zustand hinterlassen. Das muss man schon sehen: Die neue Regierung war kurz im Amt und hat dann einen Sauhaufen vor sich.

Rauch: Ja, das ist zur Ehrenrettung zu sagen: Das Gesundheitsministerium ist ausgeräumt worden, personell und auch von den Kompetenzen her. Da wurden massenhaft Stellen abgezogen, die jetzt mühsam wieder aufgebaut werden müssen.

STANDARD: Länder wie Schweden oder die Schweiz zählten trotz milderer Maßnahmen weniger Tote. Halten Sie für denkbar, dass sich der österreichische Weg bei der Aufarbeitung als grundsätzlich falsch herausstellt?

Rauch: Sagen lässt sich, dass Österreich bei der Pandemiebekämpfung im Europavergleich auf der strengeren Seite war und das zweitmeiste Geld ausgegeben hat, beim Ergebnis aber nur im Mittelfeld liegt. Doch um die Ursachen zu finden, reicht es nicht, Lockdowntage mit Todeszahlen aufzuwiegen. Die Aufarbeitung ist nicht trivial und wird dauern.

Die Argumentationsbereitschaft habe abgenommen, befindet die Langzeit-Posterin Elisabeth Weinberger: "In den Foren prallt Posting gegen Posting."
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STANDARD: Es heißt, die Pandemie habe die Nation gespalten. Nehmen Sie das auch so wahr?

Dietrich: Schon. Das Schwarz-Weiß-Denken hat stark zugenommen, die Zwischentöne gehen ab.

Weinberger: In den Foren prallt Posting gegen Posting, die Argumentationsbereitschaft hat nachgelassen. Immer mehr glauben, sie haben die Wahrheit für sich gepachtet.

Wanderer: Ich formuliere es anders: Es ist viel mehr Energie drinnen, denn Aggression ist auch Energie. Als Mediator sage ich, damit kann man etwas machen. Angst und Wut kann man abholen. Wenn es gelingt, zu einer Verständigung zu kommen, hat man ein neues Kunstwerk geschaffen.

STANDARD: Kann einem Politiker das noch gelingen?

Rauch: Es kommt immer wieder vor, dass mir volle Kanne Wut entgegenschlägt. Das musst du fünf Minuten aushalten, dann tritt die Angst zum Vorschein, die du adressieren kannst. Die sich permanent beschleunigende Krisenhaftigkeit – Corona, Krieg, Teuerung – hat ein fatales Grundgefühl ausgelöst: Es geht sich alles nicht mehr aus, die da oben haben uns vergessen. Ein Drittel der Menschen fühlt sich überhaupt nicht mehr vertreten. Da gilt es, die Emotionen zu verstehen und zu vermitteln: Ich kann's nicht sofort lösen, aber ich hau mich zumindest rein und versuche, es in eurem Sinn zu verbessern. Da hat die Politik schon viel verabsäumt.

Söllner: Was es braucht, würde ich authentische Repräsentation nennen. Dass jemand zumindest wahrnimmt, dass es ein Problem gibt. Und zwar nicht nur für eine Klientel, die ihn gewählt hat, sondern für die Solidargemeinschaft.

Aufarbeitung sei schon wichtig, sagt Mediator Ulrich Wanderer: "Aber wir sollten nicht immer nur auf das Negative, die vielzitierte Spaltung, starren."
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STANDARD: Was gilt es noch zu lernen?

Söllner: Vorbereitet sein! Nicht mehr nur bis zum Ende der Legislaturperiode denken.

Dietrich: Wir müssen insgesamt vom Populismus wegkommen. Wenn aber die Ankündigung hält, dass die Pandemie wissenschaftlich aufgearbeitet wird und ein ordentliches Epidemiegesetz kommt, wäre ich schon einmal zufrieden.

Wanderer: Aufarbeitung ist schon wichtig, denn man braucht auch etwas zum Schimpfen. Aber eine Kollegin hat mir zu denken gegeben, als sie gesagt hat: Lasst uns in Ruhe damit, die sollen endlich einmal zukunftsgerichtet arbeiten! Wir sollten nicht immer nur auf das Negative, die vielzitierte Spaltung, starren. Beim Motorradfahren lernt man: Schaue auf die trockene Straße und nicht auf den nassen Kanaldeckel, sonst fährst du garantiert drüber. (Gerald John, 10.3.2023)