Ob die Massen oder nur eine Elite vom Produktivitätsfortschritt profitieren, hänge von der Politik ab, sagt MIT-Ökonom Daron Acemoğlu.

Foto: Cody O'Loughlin

Mit "Warum Nationen scheitern" hat der Ökonom Daron Acemoğlu gemeinsam mit seinem Harvard-Kollegen James Robinson vor einem Jahrzehnt die globale Debatte über die Gründe für Unterentwicklung und Armut entscheidend geprägt, in "Gleichgewicht der Macht" vor vier Jahren im gleichen Team eine faszinierende Analyse über die unsicheren Chancen für Demokratie und Freiheit verfasst. Der in der Türkei geborene US-Wissenschafter, der am Massachusetts Institute for Technology (MIT) lehrt, vertritt dabei stets eine zentrale These: Politische und gesellschaftliche Institutionen sind der entscheidende Faktor für Wohlstand und Sicherheit.

In seinem neuen Buch, "Power and Progress: Our Thousand-Year Struggle Over Technology and Prosperity", das er mit Simon Johnson verfasst hat und im Mai 2023 erscheinen soll, widmet sich Acemoğlu mit der gleichen Methodik dem technologischen Fortschritt. Seine Kernthese: Entgegen einer weitverbreiteten Meinung haben Innovation und Fortschritt niemals von sich aus zu Wohlstand für die Massen geführt, sondern allzu oft nur einer kleinen Elite genutzt, während die Mehrheit sogar weiter verarmte.

Reichtum und Elend

Im Mittelalter floss die steigende Produktivität in der Landwirtschaft in den Bau von Burgen und Klöstern und erhöhte nicht den Lebensstandard der Bauernschaft. Von der industriellen Revolution profitierten fast ein Jahrhundert lang nur die Unternehmer und das Bürgertum, während die Arbeiterschaft verelendete. Erst Veränderungen in der politischen Landschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen Löhne und Lebensstandard der breiten Masse in Europa und den USA steigen. Ob die Früchte des Fortschritts breit geteilt werden, hänge von politischen Institutionen, der Verteilung politischer Macht und der vorherrschenden Denkweise der Entscheidungsträger ab.

Eine ähnliche Entwicklung sieht Acemoğlu in der neuen digitalen Wirtschaft, die von IT-Riesen wie Google, Apple, Facebook, Amazon oder Microsoft dominiert wird. Auch hier drohe eine kleine Elite alle Vorteile für sich zu beanspruchen und so die Ungleichheit innerhalb der westlichen Industriestaaten und der globalen Wirtschaft zu verschärfen. Damit es anders kommt, müsse die Politik eingreifen, sagte Acemoğlu vor kurzem in einem Pressegespräch mit dem STANDARD, der "Neuen Zürcher Zeitung" und der "Frankfurter Allgemeinen".

Größer als jeder andere Konzern der Geschichte

Als eine von mehreren Maßnahmen fordert Acemoğlu einen recht drastischen Schritt: "Technologieriesen wie Google sollten zerschlagen werden." Diese Konzerne seien zu groß und hätten dadurch zu viel Einfluss auf die Politik. "Google ist größer als irgendein anderer Konzern in der Geschichte. Das gibt ihm ungeheuer viel Macht." Zumindest Youtube könnte von Google abgespalten werden, und Whatsapp von Facebook.

Denn damit die neuen Technologien wie etwa künstliche Intelligenz (KI) nicht nur zu verstärkter Überwachung der Beschäftigten und Übergewinnen für die Unternehmen führen, sondern allen zugutekommen, müssten die Staaten regulierend in die Märkte eingreifen, betont Acemoğlu. Er sieht dabei europäische Modelle wie die Datenschutz-Grundverordnung und die Digitalsteuern als Vorbild. Sinnvoll wären auch höhere Steuern auf Kapital und niedrigere auf Arbeit.

Aufrüstung der Behörden

Die Behörden müssten dafür auch personell aufrüsten, sagt Acemoğlu. "Derzeit sind die Regulierer nicht gut genug aufgestellt. Damit sie sich gegen die Lobbys wehren können, benötigen sie bessere Expertise. Im Silicon Valley hört man immer wieder, dass die Regierung nicht regulieren kann, weil sie die Technologie nicht versteht. Das muss sich ändern."

Der Staat solle sich nicht in die Entwicklung der Technologie einmischen, aber sehr wohl dafür sorgen, dass sie auch den Beschäftigten zugutekomme. "Das ist wie in der Klimapolitik: Die Regierung sagt nicht, welche Solarpaneele zum Einsatz kommen sollen, aber sorgt für Steuern auf Kohle und Subventionen für Erneuerbare. Das Gleiche gilt für arbeitnehmerfreundliche Technologie und Automatisierung." Dafür brauche es auch Druck aus der Zivilgesellschaft und Unternehmer mit den richtigen Visionen. (Eric Frey, 12.3.2023)