Seit gut einem Jahr tobt in der Ukraine der Krieg. Zäh, aber doch frisst sich die russische Kriegsmaschine in das Nachbarland der EU. Keine Spur von Zögern oder Rückzug. Die kleinere ukrainische Armee leistet so gut es geht Widerstand, zeigt aber erste Zeichen von Ermüdung. Militärexperten beschreiben die Lage in einfachen Worten so:

Die russische Kriegführung erinnert an Stalin. Wladimir Putin lässt seine Soldaten ohne Rücksicht auf eigene Verluste kämpfen. Sie sind nicht so gut ausgebildet wie die Ukrainer, ihr Material veraltet. Die Befehlshaber kompensieren das mit umso größerem Einsatz von "Menschenmaterial".

Zu Tausenden werden junge russische Männer ungeschützt bewusst in den Tod geschickt, um den Druck aufrechtzuerhalten. Nebenbei werden ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht.

Ihnen stehen die Ukrainer entgegen, relativ gut ausgebildet. Sie beherrschen "smarte" Kriegsführung besser, bis hin zum Einsatz von Killerdrohnen. Vor allem sind sie viel motivierter. Die Bevölkerung unterstützt sie voll. Die Frage ist aber, wie lange sie durchhalten.

Munition für die Ukraine? In den Lagern der europäischen Staaten gibt es nur mehr Restbestände.
Foto: APA/AFP/Sergei Supinsky

Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil es an Waffen und Munition zur Verteidigung fehlt, nicht nur an vieldiskutierten Kampfpanzern. Zudem versucht Putin, die zivile Infrastruktur, also Energie- und Wasserversorgung in Städten, zu zerstören, den Willen der Bevölkerung zu brechen.

Das alles ist der Grund, warum die Regierung in Kiew seit Wochen eindringlich um Lieferung von Artilleriegranaten und Luftabwehrsystemen bettelt. Minister Oleksij Resnikow hat das beim Treffen mit den EU-Verteidigungsministern in Stockholm unterstrichen.

Fahrlässigkeit

Man sollte annehmen, dass die Europäer als tragende Säule der transatlantischen Allianz wissen, was für sie zu tun ist: entsprechend liefern, vor allem Artilleriegranaten des Kalibers 155 Millimeter. Politisch kann daran kein Zweifel bestehen: Die EU-Institutionen und die Regierungen der 27 Mitgliedsstaaten haben entsprechende Beschlüsse gefasst. "Alles, was nötig ist" zur Verteidigung der Existenz der Ukraine, werde getan.

Leider stellt sich jetzt aber heraus, dass das gar nicht möglich ist. Seit einem Jahr wurde verabsäumt, entsprechende Produktionsaufträge an die Industrie zu geben. Außer stark abgerüsteten Restbeständen in Lagern der Armeen der EU-Staaten ist kaum Munition verfügbar.

Bei den Verteidigungsministern wurden irritierende Zahlen herumgereicht. Russland kann pro Tag so viele Granaten abfeuern, wie im EU-Raum pro Monat produziert werden. Verteidigungsminister Boris Pistorius räumte kürzlich ein, dass die Munition der Bundeswehr bei einem Angriff nur für ein paar Tage reichen würde. Niemand muss deshalb gleich in Panik verfallen. Dem Nato-Mitglied stünden im Ernstfall die USA und weitere 28 Mitgliedsländer kollektiv bei. Aber die sicherheitspolitische EU-Bilanz zur Ukraine bleibt ernüchternd. Das gemeinsame Europa kann dem erklärten Partner, dem ein EU-Beitritt versprochen wurde, nicht so helfen, wie es nötig wäre.

Die EU und ihre Mitglieder sind nicht kriegsfähig, ohne Nato wohl auch nicht allein verteidigungsfähig, sollte der Konflikt in der Ukraine eskalieren und Russland etwa ein EU-Land angreifen.

Nun wird hektisch versucht, nachzuholen, was ein Jahr lang versäumt wurde: die Rüstungsindustrie zu rascherer Produktion von Munition und Waffen zu bringen. Das grenzt an Fahrlässigkeit. (Thomas Mayer, 10.3.2023)