Gerald Fleischmann hat das größte Problem Karl Nehammers vor ein paar Wochen mit einem verheißungsvoll schnulzigen Satz umschrieben: "Er hat sein Momentum noch vor sich." Ein Politiker brauche vier ihm eindeutig zuordenbare Eigenschaften, damit Menschen ein klares Bild von ihm haben, führte der ehemalige Wegbegleiter von Sebastian Kurz und heutige Kommunikationschef der Volkspartei im "Profil"-Interview aus. Nehammer sei "ehrlich", "vaterlandsliebend" und "einsatzbereit". So sieht das zumindest Fleischmann. "Die vierte Eigenschaft hängt mit dem Momentum zusammen, das Nehammer noch nutzen kann."

Wofür steht Kanzler Karl Nehammer? Auch Weggefährten räumen ein, dass das noch nicht ganz klar wurde.
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Das ist Politmarketing-Sprech, natürlich. Die unverblümte Analyse lautet: Es ist Nehammer noch immer nicht gelungen, ein klares Profil zu entwickeln – und das mehr als ein Jahr nach seiner Angelobung. Doch Fleischmanns politromantische Umschreibung von Nehammers Manko macht sichtbar, was sich auch in Gesprächen mit anderen Strategen der ÖVP bestätigt: Das Problem ist allen in seinem Team – und weitgehend wohl auch Nehammer selbst – bewusst.

Zukunftspläne im Event-Tower

Im Kanzleramt wurden viele Ideen gewälzt, wie sich "ein Momentum" erzeugen ließe. Die Entscheidung fiel schließlich auf eine "Kanzlerrede", eine Rede zur Zukunft der Nation mit Nehammers Vision für "Österreich 2030". Am Freitag, elf Uhr, soll er sie halten. 45 Minuten Redezeit sind geplant, auftreten wird er im 35. Stockwerk einer "Eventlocation" in Favoriten. Darauf aufbauend soll dann bis Ende des Jahres ein "Zukunftsplan" entstehen, an dem Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen mitarbeiten.

Dieser Plan dürfe weder als neues Regierungsprogramm noch als Parteiprogramm missverstanden werden, heißt es aus Nehammers Umfeld. Viel mehr gehe es darum, essenzielle Fragen zu beantworten: Wofür steht die ÖVP unter Karl Nehammers Führung? Und umgekehrt wofür Nehammer als ÖVP-Chef?

Die daran anschließende Frage lautet allerdings auch: Was bedeutet Nehammers marketingpolitische Selbstfindung eigentlich für die Koalition?

Gerade gab es wieder Knatsch zwischen ÖVP und Grünen. Und der wurde überraschend persönlich: Vergangenes Wochenende hatte der Twitter-Account der ÖVP-Bundespartei gegen die grüne Abgeordnete Nina Tomaselli Stimmung gemacht, weil sie mit dem Flugzeug von Wien nach Vorarlberg flog.

Rache und "Doppelmoral"

"Völlig unglaubwürdig" sei Tomaselli in ihrer "Doppelmoral". Den "Moralapostel" solle die Grüne nicht mehr spielen, legte ihr die ÖVP nahe – und verlinkte auf einen Artikel von oe24.at, der mit heimlich aufgenommenen Fotos von Tomaselli im Flugzeug bebildert war. Ob die ÖVP jetzt eigentlich völlig verrückt geworden sei, erkundigten sich hochrangige Grüne – in noch deutlicherer Wortwahl – daraufhin beim Koalitionspartner. In der ÖVP hingegen versteht man das Problem nicht: Niemand kritisiere die Volkspartei so oft und heftig wie Tomaselli. Da dürfe sie nicht so dünnhäutig sein.

Erzählt diese Episode also mehr über das Verhältnis der Kanzlerpartei zu Tomaselli als über den Zustand der Koalition? Oder weht zwischen ÖVP und Grünen nun ein anderer Wind? Richtig ist jedenfalls: Tomaselli ist im Ibiza- und ÖVP-U-Ausschuss nicht davor zurückgeschreckt, die ÖVP heftig zu kritisieren.

Vizekanzler Werner Kogler muss zusehen, wie für die Grünen wichtige Regierungsprojekte nun stocken.
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Doch Tomaselli steht nicht abseits der grünen Regierungstätigkeit, sie ist als Finanz- und Wohnsprecherin regelmäßig Teil des Verhandlungsgeschehens. Etwa bei den inhaltlichen Koalitionsstreits rund um die Abschaffung der Maklergebühren für Mieter und die Mietpreisbremse. Beide Vorhaben führten zu harten Auseinandersetzungen. Auf die Maklergebühr hat sich die Koalition noch im letzten Moment geeinigt, die Mietpreisbremse scheint hingegen gescheitert zu sein.

Der Schwung, den Kanzler Nehammer und Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler mit der Regierungsklausur im Jänner auslösen wollten, ist jedenfalls erlahmt. Das zeigt sich auch im Bereich Transparenz und Justizpolitik. Die Einigung auf ein Informationsfreiheitsgesetz wird als unwahrscheinlich, eine türkis-grüne Justizreform samt Generalstaatsanwaltschaft als nahezu unvorstellbar betrachtet. Bezeichnend dafür: Nicht einmal auf vermeintlich simple Angelegenheiten wie eine gemeinsame Stellungnahme vor dem Verfassungsgerichtshof zum Umgang mit Verjährungsfristen konnten sich ÖVP und Grüne einigen.

Die vierte Eigenschaft

Lassen sich angesichts all dessen überhaupt noch große Projekte umsetzen? Das wird auch davon abhängen, was Nehammer in seiner Rede als Zukunftsprojekte definiert. Die Grünen vermissen beim Koalitionspartner oft "klare inhaltliche Forderungen", das mache Verhandlungen schwierig. Nehammer sei mit der Krisenbewältigung beschäftigt gewesen, da sei kaum Zeit für anderes geblieben, lautet eine Erklärung dafür aus seinem Umfeld. Ob sich das nun ändert? Vielleicht wird Nehammers vierte Eigenschaft ja – überraschend – "einfallsreich". (Katharina Mittelstaedt, Fabian Schmid, 10.3.2023)