Lässt in seinem neuen Roman Menschen zu Wort kommen, die keine Stimme haben: Daniel Glattauer.

Foto: Leonhard Hilzensauer

"Können wir jetzt endlich zum Swimmingpool gehen", drängt Sophie Luise. Noch nicht. Die Sonne steht noch zu weit oben. Von den gesättigten Alten schafft es keiner, sich aus dem Sitz zu bewegen. Und die Kinder finden sich für Alleingänge in der neuen Umgebung noch nicht gut genug zurecht, meinen die Eltern.

Engelbert hat gerade eine zweite Bouteille Vernaccia di San Gimignano aufgemacht und vergleicht die Würze, das Spiel am Gaumen und den Abgang mit Merkmalen seiner eigenen Bio-Jungweine.

Oskar widerspricht, wo immer sich eine Chance dazu bietet. Mit "Spiel am Gaumen" kann er überhaupt nichts anfangen.

"Im Grunde geht es um das Spiel im Gehirn und um nichts anderes, wenn wir ehrlich sind", sagt er. "Ohne den kontinuierlich wiederkehrenden Zustand der Berauschung wäre unser aller Leben nämlich unerträglich."

Darüber will aber jetzt tatsächlich keiner diskutieren.

"Schon rein als Symbol"

"Aayana, alles okay mit dir?", ruft Elisa hinüber.

"Ja", kommt es mit dünner Stimme zurück.

"Geht es dir gut?"

"Danke. Und Ihnen?"

"Du kannst ruhig du sagen. Ich bin die Elisa."

"Danke."

"Das ist ja wirklich eine Süße, und so brav, die spürst du gar nicht", meint Engelbert.

"Sie spricht auch schon sehr gut Deutsch", lobt Melanie.

"Zumindest ,Danke‘ kann sie gut, viel mehr hat sie noch nicht gesprochen", bemerkt Oskar.

"Ich finde das jedenfalls großartig von euch", sagt Melanie.

"Was?"

"Dass ihr ein Flüchtlingskind mitgenommen habt. Schon rein als Symbol."

"Als Symbol wofür?", fragt Oskar.

"Als Symbol dafür, dass ... dass ... dass auch die Chancenlosen einmal eine Chance kriegen. Es ist ja alles so verdammt ungerecht verteilt. Was kann das Kind dafür, dass es irgendwo im hintersten Afrika zur Welt gekommen ist und nicht in ... in ..."

"Wien-Döbling", ergänzt Oskar.

"Ja genau."

"Darf ich was dazu sagen? Aber ihr werdet es nicht gerne hören."

"Dann behalte es für dich, Papa", ruft Sophie Luise hinüber, die dem Gespräch mit einem halben Ohr beiwohnt.

"Nicht jetzt, Oskar, wir sind gerade erst angekommen. Gib uns ein bisschen Luft, bitte", fleht Elisa.

"Okay, ich muss auch gar nichts mehr sagen."

"Wie habt ihr es überhaupt geschafft, das Mädchen mitzubekommen?", fragt Engelbert.

Das verlangt nach umfangreicheren Ausführungen.

Neue beste Freundin

Aayana sitzt seit einem Jahr in der Schulklasse von Sophie Luise, ohne gefragt, geprüft oder gar benotet zu werden, weil sie ja auch nur einen Bruchteil aller Inhalte versteht. Parallel dazu besucht sie theoretisch einen Deutschförderkurs, der aber praktisch nie stattfindet, weil die Lehrerin an einer hartnäckigen Krankheit laboriert. Wahrscheinlich Burnout.

Von den anderen wird Aayana gemieden, sie selbst geht auf niemanden zu. Keine Schülerin weiß irgendwas über sie, außer das Offensichtliche, dass ein schwarzes Kopftuch ihre schwarzen Haare und die schwarze Stirn ihres schwarzen Gesichts verhüllt.

Jedenfalls hat sie sich bis zum Schulschluss beharrlich geweigert, im Turnunterricht beinfreie Sporthosen und enge T-Shirts zu tragen. Das war rebellisch und antisexistisch, das gefiel Sophie Luise. Sie war die Erste überhaupt, die sich für Aayana zu interessieren begann. Und sie beschloss bald, sie zu ihrer neuen besten Freundin zu küren. Sie würden ein megacooles, ja ein geradezu krass ungleiches Paar abgeben, das nach Fotoserien auf Instagram und vielleicht sogar nach Youtube-Videos schrie. Carola, ihre vorherige beste Freundin, konnte sich jetzt mit ihren tausend "Likes" bei wem anderen reinschleimen und sich mit ihrem billigen Tussen-Outfit woanders wichtigmachen.

Tatsächlich freundeten sich die beiden rasch an und verbrachten täglich viele Stunden miteinander, nicht physisch, natürlich, aber in den gleichen Kanälen, Foren und Chatrooms, durch die Sophie Luise Aayana führte. Aayana war dankbar für alles und machte überall mit.

Folgenreicher Whatsapp-Dialog

Der Countdown für den Urlaub begann mit folgendem Whatsapp-Dialog:

"Kannst du schwimmen?"

"Nein."

"Was? Du musst schwimmen können!! Das ist wichtig!!!"

"Ja. Okay."

"Soll ich es dir beibringen?"

"Ja. Cool. Danke."

"Dann fährst du mit uns mit in den Sommerurlaub, dort gibt es einen Swimmingpool."

"Cool. Aber das darf ich sicher nicht."

"Wer sagt das?"

"Meine Eltern."

"Aber das kostet nichts, das bezahlen alles wir."

"Cool. Aber ich darf nicht."

"Was machst du sonst den ganzen Sommer?"

"Nichts."

"Krass. Dann fährst du mit uns mit!"

"Ich darf nicht. Sicher."

"Doch."

"???"

"Meine Eltern checken das."

"Cool. Danke. Aber ich darf nicht."

Schnapsidee

Oskar hielt das Unterfangen von Anfang an für eine Schnapsidee und war nicht bereit, etwas in der Aayana-Ferien-Causa zu unternehmen. Elisa aber formulierte auf Druck ihrer Tochter einen herzlichen Einladungsbrief, in dem alle Fakten zum Urlaub dargelegt waren. Dreimal betonte sie, dass für die somalische Familie keine Kosten anfallen würden und dass man sich fürsorglich um die Kleine kümmern werde. Sogar das Schwimmen wolle man ihr beibringen.

Die Reaktion von Aayanas Eltern war eindeutig: Sie blieb aus. Die Einladung war ihnen nicht einmal ein Dankeschön wert. Für ein persönliches Gespräch war Elisa zu sehr verärgert. Also kontaktierte sie die Schulbehörde und ließ sich einen Termin bei der Direktorin geben, die daraufhin eine Vertrauenslehrerin einsetzte, um die Flüchtlingsfamilie zu überzeugen, wie gut und wichtig (und darüber hinaus auch ehrenvoll) Ferien mit den (österreichweit angesehenen) Strobl-Marineks für das Kind wären, schon alleine wegen des Gratis-Deutschunterrichts, in dessen Genuss Aayana so kommen würde. (Elisa bestand darauf, dass auf die Beifügungen "ehrenvoll" und "österreichweit angesehen" verzichtet wurde.)

Nun, Aayana richtete dieser Lehrerin und Sophie Luise ein paar Tage später wörtlich aus: "Danke. Aber ich darf nicht."

Motivierende Sturheiten

Für Elisa waren Widerstände und Sturheiten berufsbedingt nicht nur üblich, sondern sogar motivierend. Sie nahm Kontakt zur psychosozialen Betreuerin auf, bei der Aayana und ihre Mutter wegen ihrer Fluchttraumata angeblich regelmäßig zu Sitzungen geladen waren, und überzeugte sie von der Sinnhaftigkeit und vom Wert des geplanten Urlaubs.

Deren gutes Zureden führte zu einem Teilerfolg. Aayana zu Sophie Luise wörtlich: "Danke. Ich darf. Aber Abdulaziz muss mit." – Abdulaziz, der zwei Jahre ältere Bruder.

Das ging für Elisa und Sophie Luise leider gar nicht. Einen muslimisch-mittelalterlich-machoiden Aufpasser, der rund um die Uhr die Einhaltung der Kopftuchpflicht, der ganzkörperlichen Bedecktheit und der Augendisziplin seiner Schwester kontrollierte, konnte in der Toskana keiner gebrauchen, am wenigsten wohl Aayana selbst, die dann wohl den gleichen Zwängen ausgesetzt wäre wie innerhalb der eigenen vier Wände.

Letzte Hoffnung

Die letzte Hoffnung war Warsame, ein inzwischen eingebürgerter somalischer Koch, Anfang dreißig, der oft zum Dolmetschen herangezogen wurde und angeblich recht engen Kontakt zu Aayanas Familie pflegte. Bei einem Telefonat mit Elisa zeigte sich dieser pessimistisch:

"Ohne Bruder wird nicht gehen. Der Vater hat große Angst um sein Mädchen. Aber ich kann probieren."

Er dürfte letztlich die richtigen Worte gefunden haben, denn Aayana richtete Sophie Luise ein paar Tage später aus:

"Danke. Vielleicht ich darf!" Aber nur unter folgender Bedingung:

"Dein Vater oder Mutter muss kommen sprechen."

Canossagang über die Donau

Der Vater schied von vornherein aus. Was Elisa von Anfang an verhindern wollte, war also plötzlich unumgänglich. Sie musste den Canossagang über die Donau in eine abgeschiedene Wiener Stadtrand-Siedlung antreten, wo hauptsächlich Asylanten untergebracht waren, und dort ihren persönlichen Werbefeldzug für eine Woche Gratis-Luxusurlaub mit allem Komfort für ein Flüchtlingskind führen.

Schon im Stiegenhaus wurde sie empfangen beziehungsweise abgefangen. Dort lehnte ein schlaksiger dunkelhäutiger junger Mann, dahinter stand eine gespenstisch anmutende schwarze Säule, bei der nur die Augen frei waren und aus der Umhüllung herausleuchteten.

"Guten Tag, ich bin die Mutter von Sophie Luise, und Sie sind sicher ..."

Der junge Mann verbeugte sich und murmelte irgendetwas, vermutlich seinen Namen – Abdulaziz.

Stumme Begegnung

Die Begegnung dauerte keine drei Minuten. Die "Säule" bewegte sich langsam auf Elisa zu, kam ganz nah an sie heran und vergrößerte mit ihren Händen den Augenschlitz, um ihr Gegenüber besser und intensiver mustern zu können.

"Meine Mutter kann leider nicht sprechen", erklärte Aayanas Bruder.

"Nicht deutsch sprechen", präzisierte er. Und er selbst schien auch wenig Lust darauf zu haben. Die beiden zogen sich nämlich erstaunlicherweise auf einen somalischen Dialog zurück. Abdulaziz wirkte eher angespannt und war offenbar anderer Meinung als die "Säule".

Gerade als Elisa das noch gar nicht vorhandene Gespräch aufs Thema Urlaub lenken wollte, schritt der Bursche auf sie zu und leitete die Verabschiedung ein. Er verbeugte sich und machte etwas Respektvolles oder sogar Tiefgläubiges mit seinen Händen. Die "Säule" dahinter tat es ihm gleich. Mit Worten blieben sie sparsam. Möglicherweise war ein knappes "Dankeschön" dabei. Elisa war jedenfalls heilfroh, diesen beklemmenden Besuchstermin hinter sich gebracht zu haben.

"Jede Zeit fordert klare Botschaften von Autorinnen und Autoren ... ich kann nur über Geschehnisse schreiben, die mich selbst gerade bewegen." – Daniel Glattauer

"Und was ist dabei herausgekommen?", fragt Engelbert auf der Terrasse.

"Am nächsten Tag hat Aayana zugesagt", erwidert Elisa.

"Warum plötzlich?"

"Keine Ahnung, vielleicht habe ich ihnen gefallen. Ich schätze, Vater und Bruder waren ohnehin dagegen, aber die vermummte Mama hat sich irgendwie durchgesetzt, man möchte es nicht für möglich halten. Kann sein, dass sie auch gern einmal schwimmen gelernt hätte ..."

"Was ihr als muslimische Frau aus Ostafrika natürlich strikt untersagt war, wolltest du noch sagen", schaltet sich Oskar ein.

"Ich wollte gar nichts dazusagen", widerspricht Elisa.

"Ich würde an deiner Stelle momentan zu alldem nichts sagen, Oskar. Du hast Elisa das alles ganz allein machen lassen, das finde ich ehrlich gesagt nicht gerade sehr ehrenwert von dir." Der Seitenhieb kommt von Melanie.

"Das war eine prinzipielle Sache", erwidert Oskar.

"Wie prinzipiell? Was für ein Prinzip gibt es da?", will Melanie wissen.

"Ich halte es hier mit Kant in seinem sehr klugen Aufsatz zur Aufklärung von 1784, oder war es 1785 ..." Elisa lässt sich in ihren Sitz zurückfallen und macht die Augen zu.

Du und Kant

Daniel Glattauer, "Die spürst du nicht". Roman. € 25,70 / 304 Seiten. Zsolnay, 2023.
Zsolnay

"Nicht Kant. Du!", stößt Melanie nach.

"Okay. Ich vertrete die Auffassung, dass man die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen sollte."

"Aber man könnte Menschen gelegentlich aus den Zwängen ihres Unglücks befreien", kontert Melanie. "Überhaupt, wenn sie noch Kinder sind."

"Ich stelle in Abrede, dass uns das zusteht. Und ich stelle in Abrede, dass uns die Zwänge anderer Kulturen etwas angehen, wir haben genügend eigene Zwänge. Aber was tut man nicht alles für die Urlaubsfreuden des eigenen Töchterleins." Oskar lächelt süffisant.

"Geht’s noch, Papa? Du hast ja eh nichts getan", ruft Sophie Luise hinüber.

"Können wir mit dem Herumgehacke jetzt bitte langsam aufhören. Hey, Freunde, schaut doch einmal, wo wir hier sind. Genießen wir diesen idyllischen Platz, diese Ruhe", schlägt Engelbert vor.

Lotte wartet noch ein paar Augenblicke, holt tief Luft und lässt dann einen ihrer gefürchteten Gewaltschreie los. Hintergrund: Die unsanft delogierte rote Riesenameise dürfte rachedurstige Geschwister auf sie angesetzt haben.

"Benjamin, tu sie ihr weg. Bitte. Schnell!"

"Mama, können wir jetzt endlich zum Swimmingpool gehen? Wozu sind wir sonst hier?", ruft Sophie Luise in die allgemeine Aufregung hinein.

"Mama", wiederholt sie. Elisa, versunken in ihrem Sitz, hält noch immer die Augen geschlossen und schweigt.

"Mama, hallo, huhu, wo bist du?"

(Daniel Glattauer, 11.3.2023)