Bodo Hell ist nicht nur Stadtgänger, sondern auch Almbewohner. Das Foto zeigt ihn auf der Grafenbergalm im Dachsteingebirge.

Foto: Norbert Mayr

Wer mit einem Text beginnt, sei es als Schreiber, aber auch lesend, sagte Bodo Hell 1991 in seiner Rede anlässlich der Entgegennahme des Erich-Fried-Preises, der könne zwar auf Bestimmtes zurückgreifen. Er wisse aber nicht, wohin ihn, den Schreibenden, diese Form von bevorstehender Verausgabung führe. Dann fuhr Hell mit einem Zitat Claude Simons fort. "Wenn ich schreibe", zitierte er den französischen Literaturnobelpreisträger, "drücke ich nicht etwas aus, was schon vor der Niederschrift existierte ... erst im Schreiben entsteht etwas ... das Faszinierende für mich ist, dass dieses Etwas immer unendlich reicher ist als das, was ich mir vorgenommen habe."

Es ist kein Zufall, dass Bodo Hell, 1943 in Salzburg geboren und dort aufgewachsen, abwechselnd in Wien und seit rund 40 Jahren sommers als "Hoida", als Halter, Senn und Ziegenkäser, auf der Grafenbergalm in der Steiermark lebend, einen so bildmächtigen Autor wie den Franzosen anführte. Ist dieser doch ein wichtiger Einfluss.

Momente umkreisen

Die Selbstaussage Simons, Autor einer Georgica, fernes Echo des Vergil’schen Lehrgedichts über Landbau, ist Konfession und Selbst-Schreibbeschreibung des Autors Bodo Hell. Denn so wie Simon die Totalität einer zersplitterten und zersplitternden Welt im Festfrieren und Umkreisen von Momenten heraus zu präparieren suchte, so erledigt sich bei Bodo Hell, der in den 1960er-Jahren ein breit gefächertes, allein von Interesse und Neugier geleitetes Studium in Wien absolvierte, die Geschlossenheit der Welt durch die vielleicht einzig adäquate Fortbewegungsart: stolpern, stehenbleiben, vorbeifliegen lassen.

Und so bewegt sich auch die Sprache, die Sprachmusik des ausgebildeten Organisten Hell. In Wortketten. In sinnlichen Assoziationsstrophen. In Variationen, Modulationen, Abschweifungen. In überbordenden Vokabularfeuerwerken. Martin Adel fand ein schönes Bild für die Wirkung einer Bodo-Hell-Lektüre: "Es hat etwas von einem Traum, dass man, auf der Stelle tretend, während sich der Erdball unter einem dreht, am Ausgangspunkt anlangt, ohne sich von der Stelle gerührt zu haben."

Helle Heiligkeit

Bodo Hell will nicht ablenken, er will, wie es der Berliner Lyriker Norbert Hummelt fein nannte, "zulenken", er will "sehend, hörend machen auf das, was sicht- und hörbar ist". Und der Zürcher Germanist Ernst Nef merkte zu Hells Bergliteratur an, sie ergebe Schnipsel einer "unendlich verwobenen Fläche", "eine Art Dickicht von Beobachtungen und Gedanken".

Anlässlich seines 70. Geburtstags durfte Bodo Hell bei den Rauriser Literaturtagen – naturgemäß als Einziger; und passend zur 41. Wiederkehr der Verleihung des ersten Festivalpreises an ihn – eine Ganz-kurz-vor-Mitternachts-Lesung in der Michaelskapelle geben. Das verwies schon auf helle Heiligkeit, auf literarische Apotheose, auf kanonisch gar nicht voreilig seligsprechende, wenn vielleicht auch nicht selig machende Auffahrt. Dass er damals einen aus "34 Nachrufen" bestehenden Text las, war, naturgemäß, hellische Ironie.

Immergrün

2011 legte der immergrüne Sprachjongleur in Zusammenarbeit mit Linda Wolfgruber mit immergrün ein, so der rätselhaft einfache Untertitel, "Sudarium/Calendarium" vor. Dabei handelte es sich um ein Ganzjahresbuch, ein kalendarisches Ganzjahreskunstwerk, ein Bilderzeichendenkwerk. Darin fand der Brauch des Hütlhebens ebenso Platz wie der Gallusbär, die Venus-Litanei und die Thomas-Nacht, das ist jene vom 20. auf den 21. Dezember, und der Erentrudissegen. Und eine Morgen-Variationskette von übermorgen über Morgenland, Morgenthau, Morgenweide zum Mörser.

Drei Jahre zuvor hatte Hell mit Nothelfer einen langen hin-, her- und des Öfteren wegmäandernden Essay in Stationen über die vierzehn Nothelfer verfasst. Dabei und darin erfuhr man etwa, dass "Noah" eingedeutscht "Trost" heißt. In Auffahrt aus dem Jahr 2019, wie so viele seiner Bücher in dem ihm seit 1986 (!) treuen Verlag Droschl zu Graz erschienen, tauchten wieder Heilige auf. Auch – wie sollte es bei Hell, dem Finder und Fabrikateur, anders sein – Un- und Aberheilige. Die alphabetisch korrekt geordnete Abfolge, absteigend von A wie AEIOU bis W wie Wetterheiligenlitanei für den Almsommer, ist allerdings von in sich vollendeter Anarchie.

Quecksilbrigkeit

Texte aus fast zehn Jahren kompilierte Hell hier, brachte sie in einen multiassoziativen Rahmen. Die einzelnen Formen sind ebenso multipel. Sie reichen von der Litanei, als Duo angelegt, bis zur Betrachtung und Meditation, die aber kaum Ruhe verströmt, sondern von munterer Quecksilbrigkeit ist, zum Dedikationsblatt, zum imaginierten Abstieg buchstäblich in die tiefe Vergangenheit.

Da fand/erfand Hell das Journal eines steirischen Theosophen des 19. Jahrhunderts, das um die Fliege an sich, mit uns und in der Welt kreiste, inklusive Fliegenmusik. Da gab es eine linguistisch enzyklopädische Umkreisung von Krippen. Sowie eine Vignette über die Johanneskapelle am Wiener Gürtel. Zudem eine Betrachtung über Johannes Capistran und die ihm zu Ehren am Stephansdom angebrachte Scheinkanzel. Es gab Monologe aus einer "Dschungel-Oper". Eine Ehrung des babylonischen Christentums Hugo Balls in dessen Post-Dada-Zeit, in der Hell sich von den Gnostikern zu Walter Benjamin zu Luis Buñuel zu Dionysius Areopagita zu Edith Stein schwang. Oder eine Kette akustischer Variationen von Babel bis Zwiebel.

70. Anniversarium

Im Eintrag "Nikolaus (und Begleiter)" hieß es einladend – und sinnig mit Kleinschreibung beginnend, als sei davor schon redlich reichlich anderes kommuniziert worden –: "dann darf ich also in die Rolle des allseits erwünschten Alleskönners und Allesbringers schlüpfen, im historischen Kostüm eines Kinderbischofs, welcher halbwegs peinliche Fragen stellt (etwa: heißt es im Credo wirklich noch: ‚abgestiegen zu der Hölle‘ und im Paternoster: ‚erlöse uns von dem Übel‘), unterwegs mit diversen Helfern, Packlträgern und Schreckgestalten zur Seiten (ein 15-jähriges Engerl ist auch dabei)".

Zum 70. Anniversarium erschien der Bodo Hell Omnibus, Einstiegskompendium für alle. Zu zwei Dritteln waren es Auszüge aus Hell’schen Publikationen, ironisch "exemplarische Texte" genannt, das andere Drittel waren Kommentare und Lobreden, unter anderem von Ernst Jandl, und "Zugaben" von Franz Josef Czernin, dem Schweizer Michel Mettler, der seit 2003 mit Hell in der Maultrommelband Vier Maultrommler musiziert, und Alexander Wied, der eine "Kleine BODOLitanei" beisteuerte.

Stadtgänger und Almbewohner

Bodo Hell, "Begabte Bäume. Mit Zeichnungen von Linda Wolfsgruber." € 25,00 / 216 Seiten. Droschl, Graz 2023
Droschl

Bodo Hell: "das Gesagte hat aber mitunter zur Folge, dass die Hörenden am Ende um ihre Ruhe gebracht sind, einerseits Buh-Rufe, andererseits Applaus und Bravo-Rufe, Psychoakustik aus dem Phonogrammarchiv, der elastische Brillenbügel scheuert inzwischen die Hautfalte hinter dem Ohrknorpel wund, auch diesen Sommer werden wieder Dutzende Giftschlangen durch die Straßen der Stadt zischen, zuerst ein Klirren an der Küchentür, dann prekäre Stille, ich höre jetzt direkt die Ruhe vor dem Sturm, Regen fällt: wir lassen ihn fallen."

Bodo Hell ist nicht nur Stadtgänger und -befahrer, sondern wesentlich Almbewohner. Naiver Natursänger jedoch nie. Deutlich wurde dies durch seine Kollaborationen mit Musikern und bildenden Künstlerinnen. Linda Wolfsgruber steuert subtile Zeichnungen bei zum neuesten Hell-Streich, Begabte Bäume, einem antinaturalistischen A-bis-Z-Lexikon der Bäume, von Ahorn über Lignoglossie zu Trommelrede und dem final splitternden Lexem "zu Bruch": eine sprachpralle avantgardistische Promenade durchs linguistische Unterholz.

Umwortungsakte

Bodo Hell, der mit 80 noch immer schelmische Alleskönner, trägt Masken, Sprach- und Sprechmasken. Dieser Wortartist verwandelt den Kosmos des Auratischen und andächtig Stillen in Umwortungsakte. In seiner ganz eigenen Manier: des Sich-in-den-Satz-Fallens, des Abbiegens, des sofortigen Kommentierens, des Palimpsest-Drunterschiebens. Mit dem Wortreitboten Bodo Hell wird man so schnell nicht fertig. Auffahrend, abfahrend, kreuz und quer lesend. Und ihn zum 80. hoch wie lang lebend lassend. (Alexander Kluy, 15.3.2023)