Spontanes Umtexten gehört für viele Eltern zum allabendlichen Lesevergnügen mit ihren Kindern.

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Es ist eine paradoxe Situation. Seit wenigen Jahren, zuletzt wieder intensiver in den vergangenen Monaten, wird über Textpassagen, Begriffe oder Darstellungen in Kinderbuchklassikern heftig diskutiert. Höhepunkt war wohl der "Sturm der Entrüstung", wie es der "Spiegel" formulierte, über eine Rücknahme zweier Kinderbücher des Ravensburger-Verlags zu einem Winnetou-Film, der vergangenes Jahr in die Kinos kam.

Nun, ein "Sturm der Entrüstung" war es erst gar nicht, wie eine Datenanalyse zeigte. Den vielzitierten Shitstorm gab es nämlich erst, als Medien – zuallererst die "Bild" – mit Begriffen wie "Zwang", "Woke-Wahnsinn" oder "Bücherverbrennungen" operierten.

Keine geschichtsvergessenen Geschichten

Davor war alles eigentlich recht unaufgeregt: Der Verlag kündigte das Begleitbuch zum Film an, eine gute Woche später gab das Unternehmen bekannt, aufgrund von Kritik an dem Werk doch davon abzusehen. Die Kritik ging wohl in Richtung Kolonialismusverkitschung – der Verlag konnte die Kritik offenbar nachvollziehen. Dass ein Verlag Geschichten nicht völlig geschichtsvergessen erzählen will, das klingt doch eigentlich gut. Aber nein, viele wollen es als "Gedankenkontrolle" sehen.

Trotz dieses recht aktuellen Beispiels zu gezieltem Einheizen bei gesellschaftspolitischen Themen geht die Aufregung undifferenziert weiter. Man soll freilich darüber diskutieren, keine Frage. Doch während sich viele in diesen Debatten über angebliche Radikalität echauffieren, bemerken sie offenbar die eigene Aufmunitionierung ihrer Sprache nicht mehr, die eine sachliche Debatte verhindert.

Meine Güte, "das Werk!"

Zuletzt wurde über sprachliche Veränderungen von Kinderbüchern von Roald Dahl debattiert. "Fett" und "hässlich" wurden rausgenommen bzw. "sprachliche Anpassungen" vorgenommen. Mehr braucht es nicht. Salman Rushdie sprach von "absurder Zensur" und "kriecherischer Befindlichkeitspolizei". Dass der Verlag und die Roald Dahl Story Company, die den Nachlass des Schriftstellers verwaltet, die sprachlichen Änderungen so wollten, geschenkt. Geschenkt auch, dass man den Stil der Umformulierungen kritisieren darf, die streckenweise tatsächlich hoppertatschig sind. Das darf und soll man. Doch darum geht es nie. Stattdessen entscheidet man sich erst einmal für das blanke Entsetzen, dass da "am Werk" herumgedoktert wird. Meine Güte, das Werk!

Das ist das eine. Das andere ist, dass sich derweil wohl manche Eltern fragen, wo sie eigentlich leben, weil sie von der angeblichen Wokeness-Welle in Kinderbüchern beim allabendlichen Vorleseevent für die eignen Kinder nichts spüren. Wenn sie selbst Abschnitte über das Aussehen von Kinderbuchfiguren mit arg abwertenden Begriffen, wie es sie noch massenhaft in Kinderbüchern gibt, selbst umschiffen oder bemüht erklären, warum es nicht okay ist, so über jemanden zu sprechen.

Adieu, Bombie der Zombie

Ja, "das Werk" kommt nun mal in die Jahre – und wenn Verlage sich entscheiden, sie hier und da zu adaptieren, wird gleich so getan, als ob es ein Verbrechen an der Freiheit der Kunst sei. In diesen Debatten ist wirklich die Übertreibung zu Hause, Zwischentöne oder auch nur ein Blick auf die konkreten Fälle interessieren kaum wen.

Zum Beispiel wurde das nahende Ende eines von Carl Barks im Jahr 1949 erdachten Charakters kürzlich mit zahlreichen "Zensur"-Titeln betrauert. "Bombie der Zombie" muss aus dem Zyklus "Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden" (1992) weichen. Doch ist das wirklich ein Verlust? Es ist eine extrem stereotype Darstellung schwarzer Menschen, an der es bereits seit den 1990er-Jahren Kritik gibt. Daraufhin wurde sie zwar etwas umgezeichnet, trotzdem blieben die rassistischen Stereotype unübersehbar – und jetzt, 2023, hat man sich dazu entschlossen, es mit der Figur ganz zu lassen. Nicht die schlechteste Idee. Ebenso, dass Pippi Langstrumpfs Papa jetzt halt der Südseekönig ist, um so leicht das N-Wort zu vermeiden. Aber nein, "das Werk"!

Stockkonservative Familienbilder

Die Empörung über jede noch so kleine Änderung in Kinderbuchklassikern ist neben einem bildungsbürgerlichem Gebaren auch noch ziemlich weltfremd. Wissen die Kritiker:innen an jeglichen Änderungen eigentlich, wie sich gegenseitig Schüler:innen aufgrund ihres Aussehens beleidigen? Was auf Instagram bezüglich "Schönheit" abgeht? Wie sich schon kleine Kinder gegenseitig als "fett" beschimpfen? Und schließlich: wie das Angebot der angeblich so "woken" Kinderbuchliteratur tatsächlich aussieht?

Ziemlich mau nämlich. Vielmehr strotzen Kinderbücher noch immer nur so von stockkonservativen Familienbildern und arg limitierten Rollen für Mädchen und Buben. Und längst nicht nur bei altem Material. So drehen sich die Geschichten in der "Mädchenvariante" der "Drei ???", "Die drei !!!", oft um Troubles rund um Burschen und Eifersüchteleien. Während sich "Die drei ???" fein auf ihre Fälle konzentrieren. Bei den Burschen ist das "andere Geschlecht" kein Topthema. Es werden also längst nicht nur Kinderbuchklassiker gelesen, über die aber nun so gern gesprochen wird und so der Eindruck vermittelt wird, es werde betreffend Sexismus und Rassismus gerade schlimm überreguliert.

Doch wer spontan und ohne jegliches Kriterium irgendein Kinderbuch aus dem Regal irgendeiner Buchhandlung fischt, wird wohl keinen "Woke-Wahnsinn" in den Händen halten. Die, die "Zensur" und "Meinungsdiktatur" schreien, sind laut, während Mamas und Papas beim Lesen mal wieder überlegen, wie sie erklären, dass mit Prinzessinnen einfach davongeritten wird, ohne sie zu fragen, ob sie eigentlich heiraten wollen, warum alle ziemlich gleich aussehen, jedes Elternpaar offenbar exakt zwei Kinder hat und – natürlich! – nie getrennt lebt. (Beate Hausbichler, 20.3.2023)