Bis heute sprang keine Österreicherin höher als Kira Grünberg. Einen Tag vor ihrem 21. Geburtstag übersprang sie am 12. August 2014 in Zürich die 4,45-Meter-Marke.

Foto: ÖLV/Coen Schilderman

Den 30. Juli vergisst Kira Grünberg natürlich nicht. "Man vergisst ja auch nicht auf seinen Geburtstag." Grünberg erlebt dieses Datum als "Lebenstag", ganz bewusst, letztes Jahr wurde darauf angestoßen. Es markiert den Anfang einer neuen Zeitrechnung, ein Leben davor und ein Leben danach. "Aktiv beschäftigt mich das nicht mehr, ich liege nicht im Bett und denke darüber nach."

Der 30. Juli 2015 war ein Donnerstag. Die Stabhochspringerin Kira Grünberg nahm beim Training in Innsbruck mit acht Schritten Anlauf, setzte den Stab in den Einstichkasten. Es folgten der Absprung, das Aufrollen und das geplante Überqueren der Latte mit den Beinen voraus – um letztlich in horizontaler Position mit dem Rücken auf der Matte zu landen. "Die Bewegung läuft sehr automatisiert ab, leider hat mein Sprung zu wenig Tiefe entwickelt."

Der Stab stellte sich nicht im Winkel von 90, sondern nur von rund 75 Grad auf. Grünberg landete nicht mittig auf der Matte, sondern eineinhalb Meter davor, prallte mit dem Genick am hinteren Ende des Einstichkastens auf. Der fünfte Halswirbel war gebrochen, sie wurde operiert, um die Wirbelsäule zu stabilisieren. Die Diagnose Querschnittslähmung stand schon davor fest. "Ich wusste gleich, als ich meine Beine nicht mehr gespürt habe, dass ich gelähmt bin."

Das ist bald acht Jahre her, und die 29-Jährige ist noch immer nicht in ein schwarzes Loch gefallen. "Das war ein Thema in der Rehabilitation. Manche trifft es gleich, manche spüren es erst später. Ich warte immer noch darauf."

Im Parlament

Den STANDARD empfängt Grünberg im Parlament in Wien. Lange hat die Tirolerin nicht gebraucht, um sich neue Ziele zu suchen. Seit Herbst 2017 ist Grünberg als Behindertensprecherin für die ÖVP Abgeordnete zum Nationalrat. Es gibt viel zu tun. Ein großes Thema, das sie umtreibt: eine bundesweite Regelung für persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung in der Freizeit, aber auch im Beruf. Der Bund stellt 100 Millionen Euro dafür bereit. Grünberg selbst nimmt eine Assistentin in Anspruch, um ihren Alltag zu meistern, sich anzuziehen, zu waschen, Stiegen zu überwinden. "Menschen mit Behinderung werden sichtbarer, auch wenn wir noch lange nicht dort sind, wo wir sein könnten. Mich macht es glücklich, für sie zu kämpfen."

Kira Grünbergs Arbeitsplatz ist seit 2017
das Parlament. Sebastian Kurz holte die damals 23-Jährige zwei Jahre nach ihrem Unfall in die ÖVP.
Foto: Florian Vetter

Beim Bundesheer sind Parasportler normalen Heeressportlern mittlerweile gleichgestellt, vor allem finanziell. Für Behindertensportler gibt es jährlich zwei Dutzend Plätze, die eine Profikarriere unter finanzieller Absicherung durch das Bundesheer ermöglichen. Für Grünberg ein sehr großer Fortschritt. Dass ORF Sport Plus vor dem Aus steht und damit auch die größte Fernsehplattform, die über Behindertensport berichtet, bereitet ihr "großes Bauchweh". Es gibt Lichtblicke: Der einarmige Schwimmer Andreas Onea moderiert als Parasportler "normale" Sportsendungen im ORF-Hauptabend. "Das war früher undenkbar."

Rekordlerin

In ihren Träumen kann Grünberg immer noch gehen. Sie spricht von Vorbestimmung, aber auch von der Unplanbarkeit des Lebens. Mit 21 hielt sie in ihrer Sportart alle Rekorde in Österreich. Bis heute sprang keine Frau höher als 4,45 Meter. Grünberg empfindet Stolz, freut sich aber auch, dass zarte Pflänzchen im Stabhochsprung wachsen, etwa der Tiroler Riccardo Klotz, der mit ihr einst gemeinsam trainierte. Der 24-Jährige übersprang im Vorjahr 5,51 Meter, der österreichische Uraltrekord von Hermann Fehringer ist nur 28 Zentimeter entfernt.

Das sportliche Talent wurde Grünberg quasi in die Wiege gelegt, Mutter Karin war im Taekwondo Europaspitze, Vater Frithjof Stabhochspringer und Unterwasser-Rugbyspieler. "Als kleines Kind wollte ich zu Beginn immer nur zuschauen, meine Schwester war deutlich aktiver als ich. Mit sieben habe ich Stabhochsprung bei Olympia im Fernsehen gesehen, Sydney. Das hat so schön ausgeschaut, auch das Runterfallen auf die Matte."

Begonnen hat Grünberg mit einem Stecken aus Holz, ähnlich einem Besenstiel: wie man ihn trägt, hält, Bewegungsabläufe, das Springen und Landen auf der Matte. Irgendwann fingen die Stäbe an, sich zu biegen. "Es heißt, dass man zehn Jahre braucht, bis man halbwegs stabhochspringen kann." Bei Grünberg ging es deutlich schneller, sie zertrümmerte schon im Nachwuchs Rekorde, unter der Anleitung von Trainervater Frithjof. Der ist von Beruf Maschinenbauer. Und Trainer durch und durch. Sein Wissen hat er sich selbst angeeignet, anfangs wurden seine Methoden belächelt. Bis seine Tochter Rekorde sprang.

Teurer Umbau

Grünberg lebt nach wie vor bei ihren Eltern in Kematen bei Innsbruck, pendelt nach Wien. Das Haus wurde um 300.000 Euro behindertengerecht umgebaut. Ihr Physiotherapeut ist ihr auch nach ihrer sportlichen Karriere geblieben. Eine Gesprächstherapie nimmt sie momentan nicht in Anspruch, "weil ich das Gefühl habe, dass ich mit mir im Reinen bin". Grünberg spricht offen über ihren Traum, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. "Das wünsche ich mir für mein Leben." Eine langjährige Beziehung mit ihrem Ex-Freund Christoph endete vor drei Jahren. "Wir haben uns sehr jung kennengelernt, ich war damals 16. Wir waren fünf Jahre nach dem Unfall noch zusammen. Ich bin als Single glücklich, so wie es ist."

Ihre Querschnittslähmung hat sie in einem Buch und unzähligen Vorträgen verarbeitet, das Sprechen darüber war eine große Hilfe. "Schicksalsschläge und Gedanken aufzuschreiben oder auf ein Band zu sprechen, auch nur privat für sich selbst, das kann ich nur jedem empfehlen. Das hat mich innerlich sehr befreit."

Eine Heilung für Rückenmarksverletzungen zu finden ist eines der letzten großen Rätsel der medizinischen Forschung. Grünberg ist Botschafterin des Wings for Life Run. Die Stiftung fördert Studien zur Heilung von Querschnittslähmung. Grünberg: "Ein Durchbruch liegt in ferner Zukunft. Ich habe Hoffnung, das beeinflusst aber mein Glück in diesem Moment nicht." (Florian Vetter, 17.3.2023)