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Sollten Sie gerade aus akuter Betroffenheit auf den Artikel geklickt haben, weil Ihr Gegenüber zu laut frühstückt: nicht anbrüllen, sondern erst mal durchatmen. Augen schließen. Und dann gedanklich ein Lied singen. Sich vom Trigger, also dem unangenehmen Geräusch ablenken ist eines der wenigen Dinge, die in so einer Situation sofort helfen, weiß man aus der Forschung.

Dass man im Alltag ein bestimmtes Geräusch nur schwer aushält, kennen wohl viele. Denken Sie nur an die Schulzeit und das Geräusch, wenn man mit dem Fingernagel an der Tafel kratzt. Ist der Leidensdruck, der durch ein bestimmtes Geräusch entsteht, besonders hoch, bezeichnet man das in der Fachsprache als Misophonie. Das ist vereinfacht gesagt eine Intoleranz gegenüber bestimmten Geräuschen. "Aber nicht jeder, der sich bei manchen Geräuschen schütteln muss, ist gleich Misophoniker", stellt Cornelia Schwemmle, Oberärztin an der HNO-Klinik Giessen, klar.

Viel Unwissen

Ob man selbst betroffen ist, ist schwierig zu sagen. Die Diagnose erfolgt klinisch, oft mithilfe eines Fragebogens, denn bislang ist Misophonie nicht als Krankheit definiert und keinem offiziellen Diagnosesystem zugeordnet. Deshalb können Fachleute auch nur schätzen, was die Zahl der Betroffenen angeht. Etwa drei Prozent der Allgemeinbevölkerung leiden laut Schätzungen an der Störung, Frauen vermutlich häufiger als Männer. Nur so viel: Es ist völlig normal, dass man manche Geräusche als nervig empfindet und dabei Gefühle wie Wut oder Ekel entstehen. Bei Betroffenen von Misophonie vervielfachen sich diese Symptome. Sie haben das Gefühl, einer Situation sofort entfliehen zu müssen, das Geräusch keine Sekunde mehr länger auszuhalten. "Betroffene beschreiben es oft als 'Da dreht der ganze Körper durch'", berichtet Schwemmle aus der Praxis.

Wie Misophonie entsteht, weiß man nicht so genau. Es gibt wohl nicht die eine Ursache, glaubt man in der Forschung. Viel eher ist es ein Zusammenspiel aus kognitiven, neurologischen und verhaltensspezifischen Faktoren. "In Einzelfällen kann es deshalb hilfreich sein, eine psychiatrische Untersuchung zu machen", sagt Schwemmle. Bei Misophonie können beispielsweise Aufmerksamkeits- und Zwangsstörungen oder Autismus-Spektrum-Krankheiten parallel auftreten.

"Man geht außerdem davon aus, dass es zu Problemen bei der neuronalen Vernetzung kommt und so diese Triggerung ausgelöst wird", erklärt Schwemmle. Darauf deuten auch erste Studien hin. Bei MRT-Untersuchungen von Betroffenen zeigte sich, dass manche Gehirnareale bei bestimmten Geräuschen übermäßig aktiviert wurden, etwa jene Region, die für die Emotionsregulation verantwortlich ist. Das erklärt auch die negativen Gefühle, die bei Betroffenen entstehen. Auf Triggergeräusche reagieren sie oft mit Wut, Aggression, Ekel und Zorn. Und auch physische Veränderungen lassen sich messen: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck verändert sich, und die Schweißproduktion steigt.

Es gibt in der Forschung auch erste Hinweise darauf, dass es nicht nur um das Hören geht, sondern womöglich parallel dazu visuelle Aspekte triggern können, also das Anschauen von Menschen, die beispielsweise laut schmatzen. "Aber das wird sich noch zeigen, ob da was dran ist", sagt Schwemmle. Was man weiß: Es dürfte eine starke soziale und emotionale Komponente geben. Misophonikerinnen und Misophoniker haben bei Geräuschen, die sie selbst verursachen, nämlich überhaupt keine Symptome. Wenn die Geräusche aber von Menschen kommen, die ihnen nahestehen, sind die Symptome besonders stark. "Betroffene fragen sich dann: Wie kann mir die Person das nur antun?", sagt Schwemmle.

Sozialer Rückzug

Häufig beginnt Misophonie mit Start der hormonellen Veränderung in der Pubertät oder Vorpubertät. Meist treten erste Beschwerden im Alter zwischen elf und 14 Jahren auf, berichtet Schwemmle. Dabei seien es meist nicht die Betroffenen selbst, die Hilfe suchen, sondern oft die Eltern. "Sie berichten, dass sie nicht mehr gemeinsam mit ihrem Kind im selben Zimmer essen könnten. Auch solch gravierende Veränderungen der sozialen Integration können auf Misophonie hinweisen", erklärt Schwemmle. Weil Betroffene unter manchen Triggergeräuschen wie Kauen, Schmatzen oder lautes Atmen derartig leiden, vermeiden sie soziale Situationen, in denen ein solches Geräusch auftreten könnte.

Essgeräusche sind mit Abstand die häufigste und stärkste Belastung für Misophonikerinnen und Misophoniker. 96 Prozent von ihnen fühlen sich getriggert, wenn neben ihnen jemand Chips isst, Kaugummi kaut oder schmatzt. Atem- und Schniefgeräusche sind mit 85 Prozent die zweithäufigsten Trigger. Danach folgen Geräusche durch Körperbewegungen wie etwa schaukelnde Beine und Geräusche durch Finger, etwa wenn jemand mit den Fingernägeln auf einen Tisch klopft.

Kaum Behandlungsansätze

"Der Leidensdruck von Betroffenen kann sehr hoch sein, sie in ihrem sozialen Leben einschränken und durch die starke emotionale Erregung zu Konflikten mit Freundinnen und Freunden führen", sagt David Lechner, Psychotherapeut und Medical Advisor bei der Mental-Health-App Selfapy. Umso wichtiger sei es, Misophonie zu behandeln, aber das Unwissen über den Ursprung macht auch die Behandlung schwierig. Wo setzt man da am besten an?

Bisher gibt es keine randomisierten kontrollierten Studien zur Therapie, nur experimentelle Ansätze, berichtet der Psychotherapeut. Mit kognitiv verhaltenstherapeutischen Methoden könne man versuchen, die negativen Gedanken, unangenehmen Emotionen und wenig hilfreichen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit den Triggergeräuschen zu reduzieren. Eine andere Therapieoption ist die sogenannte Tinnitus-Bewältigungsstrategie, die – wie der Name schon sagt – ursprünglich zur Behandlung von Tinnitus entwickelt wurde: "Der Fokus liegt hier darauf, die Aufmerksamkeit der Betroffenen weg von den Triggergeräuschen zu lenken. Alternatives Denken im Zusammenhang mit den Triggersituationen wird trainiert, Entspannungsmethoden werden erlernt und das Vermeidungsverhalten der Betroffenen reduziert", erklärt Lechner.

Weil ein psychiatrisches Syndrom auch Basis oder Kofaktor einer Misophonie sein kann, könnten Therapien auch auf dieser Ebene ansetzen – etwa mit Verhaltenstherapie oder der Behandlung von Angststörungen. (Magdalena Pötsch, 14.3.2023)