Knapp eineinhalb Stunden dauerte die Ansprache des Regierungschefs.

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Wie wird oder soll Österreich bis zum Jahr 2030 aussehen? In seiner knapp eineinhalbstündigen und groß inszenierten "Rede zur Zukunft der Nation" hat Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) Freitagmittag seine Version davon skizziert – dabei schlug er Pflöcke ein und gab so manche altbekannte ÖVP-Forderung zum Besten.

"Es ist tatsächlich eine besondere Zeit, in der wir uns treffen", sagt Nehammer eingangs und verweist auf Pandemie, Ukrainekrieg und Energiekrise. "All diese Krisen haben eines gemeinsam, sie sind von Angst geprägt." Es habe sich aber auch gezeigt, dass wir Krisen überwinden können und Lösungen finden. Zugleich habe diese Situation aber auch gezeigt, "dass wir das Unmögliche möglich gemacht haben".

Die "Rede zur Zukunft der Nation" von Bundeskanzler Karl Nehammer.
ORF

Zugleich wachse das Bedürfnis nach einer "Einordnung der aktuellen Lage", sagt Nehammer. Das sei auch der Grund dafür, dass er heute hier stehe. Wenn Nehammer an Österreich 2030 denkt, stellen sich ihm fünf entscheidende Fragen: Bleibt es so, dass es weiterhin jeder Generation besser geht als der davor? Wie und wo werden wir in Zukunft leben – gleichberechtigt in Stadt und Land? Werden wir 2030 mehr Work oder mehr Life haben? Ist Verzicht die richtige Antwort, und schließen Wohlstand, Umwelt und Klimaschutz einander aus? Wie sicher ist Österreich tatsächlich in einer veränderten Welt 2030?

"Geistige Landesverteidigung"

"Was die Krisen schonungslos aufgezeigt haben, ist, dass die Demokratie immer wieder bedroht ist. Wer hätte gedacht, dass die Frage der Energieversorgungssicherheit Auswirkungen auf die Demokratien hat?", fragt Nehammer. Ängste würden zum Teil geschürt, es gebe Desinformationskampagnen: "Demokratie muss wehrhaft sein. Wehrhaftigkeit entsteht auch in uns selbst", sagt der Kanzler. Genauso wichtig wie die militärische Landesverteidigung sei es, die "geistige Landesverteidigung" zu sichern.

"Unerträglich" nennt Nehammer die Situation in der Ukraine aufgrund des Krieges. Einmal mehr verdeutlicht er Österreichs Position: "Wir stehen solidarisch an der Seite der Menschen in der Ukraine." Man zeige sich solidarisch mit den Schwachen. Der Krieg werde womöglich noch Jahre dauern: "Wir dürfen da nicht ruhen, solidarisch zu sein und uns für den Frieden einzusetzen."

Durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine habe Nehammer "gelernt, wie wertvoll Sicherheit und Frieden sind und wie selbstverständlich beides für uns war". Als er von seinem Besuch in Kiew zurückkam, war ihm einmal mehr bewusst, "wie schön es ist, in einem freien Land zu leben und diesem politisch dienen zu dürfen". Bis 2030 will der Kanzler eine Sicherheitsstrategie entwickeln, in der "die Neutralität ein fixer Bestandteil ist".

Reformen statt Gendern

Neben dem Wort "Krise" kommt der Begriff "Gendern" in Nehammers Rede prominent vor. Man könne schon wochenlang über das Gendern in Broschüren debattieren, sagt Nehammer – um durchblicken zu lassen, dass er davon nicht gar so viel halte. Und: "Die einen meinen, dass man die Uni nur abschließen kann, wenn man richtig gendern kann." Er sehe aber andere Notwendigkeiten, wie etwa eine generelle Reform des Bildungssektors.

"Wir wollen, dass Schulen der Ort der Bildung und des Wissens sind und nicht zu Brennpunkten werden." Schulen sollen auf das Leben vorbereiten, nicht auf Arbeitslosigkeit. Es sei "keine Selbstverständlichkeit mehr", dass Kinder lesen, schreiben und rechnen können, wenn sie die Schule verlassen. "Es braucht eine Schule, die den Ansprüchen der Zeit gerecht wird und wo es selbstverständlich ist, dass Kinder beim Verlassen Deutsch auch tatsächlich können." Außerdem stellt er sich ein Schulfach Programmieren ab der fünften Schulstufe sowie mehr Fokus auf politische Bildung und Medienkompetenz vor.

Anreize für längeres Arbeiten

Danach kommt Nehammer von den Jüngeren zu den Älteren. Er formuliert das Anliegen, dass Altersarmut in der Pension "kein Thema mehr ist". Österreich habe "ein gutes und leistungsfähiges Pensionssystem". Die Frage sei: Wie können wir dieses erhalten und absichern? Es müssten Anreize gesetzt werden, damit Menschen länger arbeiten können und auch wollen. Voraussetzung dafür ist Gesundheit. Ziel müsse sein, dass wir "nicht nur immer älter werden, sondern gesund älter werden". Hier brauche es auch Verbesserungen in Österreichs Gesundheitssystem. Bis 2023 sollen in allen Regionen ausreichend Kassenärzte zur Verfügung stehen, das seien 800 zusätzliche. Um die zu bekommen, will Nehammer für Medizinstudierende eine Berufspflicht in Österreich.

In diesem Zusammenhang kommt er auch auf das Thema Pflege und den massiven Pflegekräftemangel zu sprechen. Um diesem entgegenzuwirken, brauche es Fachkräfte aus dem Ausland. Beim Anwerben von Pflegekräften aus dem Ausland stoße man auf "Bürokratie und Hindernisse". Das seien "Hemmnisse, die dazu führen, dass wir das Problem bis jetzt nicht in den Griff bekommen haben". Der Pflegekräftemangel müsse kleiner werden. "Wir müssen hier ins Tun kommen."

Land der Eigentümer

Nächstes Thema war das Wohnen. Der Fokus müsse wieder stärker darauf gerichtet werden, dass Menschen sich Eigentum leisten können. "Mein Ziel ist, dass alle Österreicherinnen und Österreicher zur besitzenden Klasse gehören statt zur nicht besitzenden", sagt der Kanzler. Lösen will der ÖVP-Chef die Frage über die Zweckwidmung der Wohnbauförderung, außerdem solle die Grunderwerbssteuer für das erste Eigenheim gestrichen werden. "2030 soll Österreich wieder mehr ein Land der Eigentümerinnen und Eigentümer werden."

Nehammer kommt zur Lebensmittelversorgung, die genauso wichtig sei wie ein Dach über dem Kopf. "Es ist unsere Aufgabe in der Politik, die Bäuerinnen von Hürden zu befreien, um die Lebensmittelversorgung zu sichern. Landwirtschaften muss 2030 noch möglich sein in Österreich." Dazu müssten Fehlentwicklungen in der EU zurückgenommen werden. Als Beispiel bringt Nehammer Putenfleisch: Dieses werde stark nachgefragt, in der EU werde es aber nicht so viel produziert, wegen verschiedener Auflagen, stattdessen passiere dies in Drittstaaten.

Leistung muss sich lohnen

Nehammer spricht auch über die moderne Arbeitswelt und die Digitalisierung. Letztere schreite voran: Homeoffice sei ein fixer Bestandteil des Tuns vieler. Es gehe aber nicht nur um Digitalisierung: "Wir müssen dazu kommen, dass Arbeit ein Wert ist. Arbeit ist sinnstiftend", betont der ÖVP-Chef.

In Anspielung auf die Teilzeitdebatte meint er: Es könne nicht sein, dass "die einen nur mehr Work und die anderen nur noch Life haben". Das Grundprinzip müsse sein: Leistung muss sich lohnen. Nehammer strebt einen deutlicheren Unterschied zwischen Lohn aus Arbeit und Sozialleistungen an. Derzeit sei so: "Die einen arbeiten fürs Geld, die anderen bekommen das Geld."

Es brauche ein Maßnahmenbündel: Wirtschaften und Unternehmertum müssten so abgesichert sein, dass bessere Löhne gezahlt werden können. Und: "Es braucht ein neues Arbeitslosengeld." Wenn Arbeitslosigkeit eintrete, sei das Arbeitslosengeld in den ersten Phasen hoch anzusetzen, dann müsse es sich aber deutlich absenken, sagt Nehammer. "Der, der 30, 35 ist und zwei gesunde Hände hat, soll auch tatsächlich arbeiten gehen."

Mehr Sach- als Geldleistungen

Zum Thema Migration findet der Kanzler deutliche Worte: "Der Kampf gegen die irrreguläre Migration ist auch ein Kampf der organisierten Kriminalität, die das Leid der Menschen brutal ausnützt." Es sei auch eine Zukunftsfrage, "dass wir gezielte, kontrollierte und geordnete Zuwanderung haben". Es gehe darum, "dass wir entscheiden, wer nach Österreich kommt – und nicht die organisierte Kriminalität". In Sachen Sozialleistungen sollen künftig nur jene Menschen Anspruch auf den vollen Bezug haben, die mindestens fünf Jahre in Österreich leben, sagt der Kanzler.

Im Zusammenhang mit der Migration nimmt Nehammer einmal mehr die Europäische Union in die Pflicht. Diese könnte "tatsächlich ihre Macht, ihre Größe, ihre Struktur konstruktiv einsetzen für die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten". Was es brauche, seien Änderungen der EU-Gesetze. Österreich werde weiter "ein steter Mahner und Einforderer dieses Tuns sein". Denn "man kann es den Menschen nicht erklären, dass jemand zehn sichere Staaten durchquert und dann ausgerechnet in Österreich einen Asylantrag stellt". Das Schengen-Veto Österreichs bleibe weiter aufrecht, sagt der Kanzler.

"Vorbildlich" sei Österreich darin, Menschen Schutz und Hilfe zu gewähren, die dies brauchen würden. Bei der Versorgung von Asylwerbern sei allerdings "noch einiges zu tun". Es brauche aus seiner Sicht "mehr Sachleistungen als Geldleistungen".

Problematische Abhängigkeiten

"Wir müssen auch feststellen, dass wir höchst problematische Abhängigkeiten entwickelt haben", sagt der Kanzler. Nun müsse überlegt werden, wie Österreich in gewissen Bereichen autonomer werden oder Kooperationen mit neuen Staaten schließen könne. Nehammer sagt auch, warum das notwendig ist: "Ein querstehendes Schiff im Suezkanal kann dazu führen, dass höchst erfolgreiche Unternehmer Kurzarbeit anmelden müssen, weil sie Produkte nicht produzieren können."

Außerdem spricht der Kanzler die Abhängigkeit Österreichs von Russland in puncto Gas an. In der Energieversorgung hätte Nehammer gern eine Pflicht zur Gas-Einspeicherung für Energiekonzerne, denn es könne nicht sein, "Risiken zu verstaatlichen und Gewinne dann zu privatisieren".

"Kein Beweis für Untergangsapokalypse"

Fleischkonsum oder Autos zu verbieten sind für den Kanzler keine Antwort, der Klimakrise zu begegnen. "Ich habe in der Geschichte noch nie erlebt, dass ein Rückschritt jemals ein Fortschritt war." Die Diskussion über den Klimawandel nehme "seltsame Formen an". Manchmal habe der Kanzler "das Gefühl, dass man sich dafür entschuldigen muss, dass man auf der Welt ist". Die Sorge angesichts des Klimawandels wolle Nehammer aber "nicht kleinreden". Um dem Klimawandel zu begegnen, seien Kreativität und Innovation gefragt. Der "Untergangsapokalypse, die gezeichnet wird", wolle er aber "klar entgegentreten". Dafür gebe es "keinen wissenschaftlichen Beweis".

Eindeutig "dagegen aussprechen" wolle er sich auch in der Debatte, "den Verbrennungsmotor zu verbannen". Denn: Österreich sei in der Entwicklung und Erforschung führend. "Österreich ist das Autoland schlechthin", sagte der Regierungschef. Nicht, weil so viele mit dem Auto fahren, sondern weil rund 80.000 Menschen in diesem Bereich arbeiten.

Was Österreich für ein Land sein soll

Der Kanzler kommt zu seinen Schlussworten. Die Krisen hätten uns gezeigt: "Das Unmögliche ist möglich. In der Bewältigung haben wir gesehen, dass wir allesamt über uns hinausgewachsen sind. Dass wir selbst das Unmögliche möglich machen können." Was uns ausmacht: "Keine Angst vor irgendwas oder irgendwem."

Nehammer skizziert seine Vision in wenigen Sätzen: "Österreich soll 2030 ein Land sein, das unabhängiger, sicherer und im wahrsten Sinne des Wortes voller Energie ist. Es soll ein Land voller Möglichkeiten für uns alle sein. Ein Land, in dem Leistung etwas zählt. Ein Land, in dem wir unserer Werte und Traditionen hochhalten. Ein Land, das jede Krise meistern und bewältigen kann. Ein Land mit einer selbstbewussten Stellung in Europa und in der Welt."

All die genannten Punkte sollen "Teil eines Zukunftsplans" sein, zu dessen Ausarbeitung Nehammer in den kommenden Monaten Politikerinnen und Politiker sowie Expertinnen und Experten einladen wolle. Dem grünen Koalitionspartner dürfte Vieles davon so gar nicht schmecken. (Sandra Schieder, 10.3.2023)