Schon vor der groß angekündigten "Zukunftsrede" konnte man es ahnen: Ein Visionär ist Karl Nehammer nicht. Auch durch diesen Auftritt ist er es nicht geworden. Als Sachbearbeiter für Zukunftsfragen hat er eineinhalb Stunden lang eine längliche Liste an naheliegenden Punkten abgearbeitet.

Die Rede war ein Versuch, aus der Defensive zu kommen. Nehammer ist seit Amtsantritt ein Getriebener der Krisen: des Krieges, von Corona, der Energiefrage, der Inflation und auch der Krise seiner eigenen Partei. Verständlich, dass man nach 15 Monaten mehr reagieren als regieren auch innehalten und den Blick nach vorne richten will. "Wohin möchte ich dieses Land eigentlich führen, wenn mich die Umstände ließen?"

Hielt eine "Zukunftsrede" mit Schwerpunkt Vergangenheitsbewältigung: ÖVP-Parteichef und Bundeskanzler Karl Nehammer.
Foto: Heribert Corn

Kein großer Ruck

Diese Rede wäre eine Chance gewesen für einen, der sich redlich bemüht – das muss man Nehammer zugutehalten. Es wäre eine Chance gewesen, sein Profil jenseits der Krisenbewältigung zu schärfen, auf dem Weg vom Innenminister, der gegen die "irreguläre Migration" kämpft, zum Bundeskanzler, der die großen Leitlinien für die nächsten sieben Jahre vorgibt.

Auf diesem Weg hat ihn seine Rede allerdings nicht weitergebracht. Er hat sie nicht als jener Kanzler, der er sein könnte, gehalten. Er hat sie als Parteichef gehalten, die Landeshauptleute in der ersten Reihe – mit jenen Themen, die bei der eigenen Klientel ziehen und die seine Position in der ÖVP stärken. Doch auch durch die eigenen Reihen ist bei der Aufforderung, es "gemeinsam anzupacken", schließlich kein großer Ruck gegangen.

"Statt eine Zukunftsrede zu halten, die zeigt, was heute ist und was morgen sein könnte, ging es auffallend oft um Vergangenheitsbewältigung, etwa zu Corona oder dem Schengen-Veto."

Nehammers Ansprache changierte zwischen Banalitäten gegen "Klimakleber", gegen das "Gendern", einem Bekenntnis zum Verbrennungsmotor – und ernsthaften Themen wie dem Arbeitskräftemangel, Wohnungseigentum, Pflege und der Qualität des Gesundheitssystems. Statt eine Zukunftsrede zu halten, die zeigt, was heute ist und was morgen sein könnte, ging es auffallend oft um Vergangenheitsbewältigung, etwa zu Corona oder dem Schengen-Veto. Konsequent war die Aufarbeitung der Vergangenheit aber nicht, denn ein wesentlicher Punkt fehlte in der Rede völlig: wie Korruption und Freunderlwirtschaft überwunden und die ÖVP eines Tages für saubere Politik stehen könnte. Das wäre die Basis für Glaubwürdigkeit gewesen, die ein Zukunftsprozess braucht, um von der ganzen Gesellschaft mitgetragen zu werden.

Drängende Fragen

Es gibt ein Sehnen nach Inhalten, aber aus der Politik kommt derzeit nicht viel, nicht nur vonseiten der ÖVP. Die SPÖ beschädigt sich in einer erbitterten Personaldebatte gerade selbst, und die FPÖ fokussiert sich auf ihr "Monopol auf das Nein", wie es Nehammer einmal ausgedrückt hat. Trotz dieses schwachen Startes möchte man dem Land daher wünschen, dass der Zukunftsprozess gelingt, den Nehammer anstoßen will.

Drängende Fragen gäbe es zahlreiche, manche hat Nehammer angesprochen: Wie überwinden wir die Barrieren gegen den Klimaschutz? Wie sorgen wir für wirkliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau? Wie stellen wir sicher, dass der Wohlstand gewahrt bleibt, während künstliche Intelligenz die Arbeitswelt verändert? Wie schaffen wir eine echte Wissensgesellschaft?

Diese Debatte müsste konstruktiv und ideologiefrei geführt, Expertinnen und Experten sowie Bürgerinnen und Bürger gehört werden. Das kann Nehammer – auch nach diesem schwachen Start – immer noch auf den Weg bringen. (Martin Kotynek, 10.3.2023)