Hinter ihm erstreckt sich die Stadt, vor ihm sitzt das enge, stickige Jetzt. Alle Ministerinnen und Minister der ÖVP sind gekommen, natürlich die Hautevolee der alten Volkspartei: Spindelegger, Pröll, Korosec, Khol. Nicht zu viel Applaus vor Beginn, deutet Karl Nehammer mit seinen Händen und knipst sein breitestes Lächeln an. Er steht im 35. Stockwerk eines vollverglasten Hochhauses in Wien-Favoriten und hat sich einiges vorgenommen: eine visionäre Rede zur Zukunft der Nation. Aber insgeheim noch viel mehr. Nehammer möchte sein Profil schärfen. Der Welt oder zumindest Österreich endlich zeigen, wohin er will.

Kanzler Karl Nehammer hielt im 35. Stockwerk eines Hochhauses in Wien-Favoriten seine Rede, die nun einen "Zukunftsprozess" einleiten soll.

Nicht im Publikum sitzt Sebastian Kurz, jedenfalls hat ihn keiner der anwesenden Journalisten erspäht. Kurz hat es Nehammer aber überhaupt zu verdanken, dass er ständig diese Sinnfragen gestellt bekommt, die er nun beantworten muss: Wofür steht die Volkspartei unter Nehammer – oder eigentlich: seit dem Abgang von Kurz? Wie kann man Nehammer einordnen zwischen alter, neuer und mittelalter Volkspartei?

Rückblick nach vorne

Bisher war die Krisenbewältigung im Fokus, aber jetzt ist Zeit für Visionen und Profilierung, wurde in Nehammers Team befunden. Also steht der Kanzler da, breitbeinig, stabil, seine klobigen Lederschuhe bilden ein "V", in den Armen bleibt er beweglich. Er hat Zettel vor sich liegen, schaut aber nicht drauf: "Es ist tatsächlich eine besondere Zeit, in der wir uns treffen: Was wir für unmöglich gehalten haben, ist eingetreten", beginnt er seine Zukunftsrede mit einem Rückblick. Ist das schon bezeichnend?

Als Politiker "ein Profil" zu haben bedeutet nicht mehr, als dass ihn Menschen in eine Schublade stecken können; und Journalistinnen dazu in der Lage sind, ihn mit wenigen Worten zu skizzieren: Wolfgang Schüssel war ein entschlossener Bürgerlicher mit Reformgeist, Christian Kern der salonfähige Linke mit Hang zum Pragmatismus. Sebastian Kurz verkaufte sich erfolgreich als freundlicher Migrations-Hardliner mit Sensorium für den kleinen Mann. Aber wer ist jetzt eigentlich Karl Nehammer? Die Rede – und darauf wurde sie explizit von seinen Strategen ausgelegt – soll darauf eine Antwort geben. Über Nehammers Vision, so die Idee, versteht das Volk dann auch ihn als Menschen besser. Kann das gelingen? In 45 Minuten – geplanter – Redezeit?

Einladung zu einer Reise

"Wir wollen Sie zu einer Reise einladen, einer spannenden Reise in die Zukunft", hatte die Moderatorin seinen Auftritt hochtrabend angekündigt. Nehammer nimmt dann weit Anlauf für seinen Sprung Richtung morgen: Pandemie, Krieg, Energiekrise, die Angst als ständiger Begleiter – fast zehn Minuten lang geht es erst einmal ums Gestern. Es dauert auch, bis das erste Mal Applaus aufbrandet, obwohl fast ausschließlich Parteifreunde Nehammers geladen wurden. Der Kanzler ist kein Showman. Er nimmt seinen Job ernster, als man es ihm auf den ersten Blick zutrauen würde. Er ist nicht der geborene Staatsmann, aber ein soldatischer Staatsdiener und Parteifunktionär.

Nach rund zwanzig Minuten schickt eine Kollegin eine Nachricht: "Eher fad", lautet ihre Blitzanalyse der Rede. Nehammer hat aber noch ein paar Knüller im Ärmel: Er wird Betreuungsplätze für alle Kinder ab einem Jahr bis 2030 fordern. Er wird die Klimakleber verteufeln. Ihr Tun sei "sinnlos", der "Untergangsirrsinn" nicht zielführend. "Manchmal hat man das Gefühl, dass man sich entschuldigen muss, dass man überhaupt auf der Welt ist", ruft er in Richtung Aktivisten.

Nehammer wird sich auch als Freund und Liebhaber des Verbrennungsmotors outen. Österreich sei "das Autoland schlechthin", dafür gelte es auch in Zukunft zu kämpfen. "Warum auf einen Antrieb fokussieren?", richtet er den E-Mobilität-Befürwortern aus. Der Klimawandel sei "ernst zu nehmen", aber ein globales, "kein nationales" Thema.

Mit geballter Faust vermittelt Nehammer seine Vorhaben.
Foto: Heribert Corn

Geballte Faust, erhobener Finger

Während Nehammer spricht, halten seine Beine still, die Mimik bleibt starr, aber seine Arme sind in ständiger Bewegung. Er ballt die Fäuste, hebt den Zeigefinger, gibt mit seinen Händen die Richtung vor wie ein Flugbegleiter vor dem Start. Man nimmt ihm schon ab, dass er meint, was er sagt.

Ausländern will der ÖVP-Chef die Sozialleistungen kürzen, das Arbeitslosengeld reformieren. Eines seiner wichtigsten Projekte ist aber das Thema Eigentum: "Mein Ziel ist es, dass alle Österreicherinnen und Österreicher zur besitzenden Klasse gehören – und nicht zur nichtbesitzenden." Gelingen soll das über eine Zweckwidmung der Wohnbauförderung, außerdem müsse die Grunderwerbsteuer für das erste Eigenheim abgeschafft werden. Selbstverständlich kommt auch das Thema Migration zur Sprache. Da müsse die Europäische Union "deutlich in die Gänge kommen", es liege "vieles im Argen". Gendern hält der Kanzler für überflüssig. Und natürlich ist Nehammer die Neutralität heilig. Das Wort "Korruption" erwähnt er mit keinem Satz.

Die Rede dauert schließlich 80 Minuten – fast doppelt so lange wie ursprünglich geplant. Sein "Österreich 2030" wollte Nehammer skizzieren, wurde in der Einladung versprochen. Aber ist nun tatsächlich klarer, wie das Land in sieben Jahren aussehen würde, wenn es allein nach dem Kanzler geht?

Fokus auf Mitte-rechts-Wähler

Jedenfalls soll die Rede nur "der Startschuss" für "Österreich 2030" sein. Nun will Nehammer mit "Praktiker/innen, Denker/innen, Expert/innen und Innovator/innen", wie ordentlich gegendert auf einem Flyer zu lesen ist, einen Zukunftsprozess starten. Ende des Jahres soll dann ein Papier vorliegen, in dem der Weg zur Vision skizziert ist. Danach wird auch schon bald der Wahlkampf starten. Planmäßig findet die nächste Nationalratswahl im Herbst 2024 statt. Manche munkeln: womöglich schon etwas früher.

Aber wurde nun deutlich, wer Karl Nehammer ist, wofür er steht und die ÖVP unter seiner Führung? Ein bestehender Eindruck hat sich jedenfalls verfestigt: Nehammer ist ein Konservativer mit klarer Tendenz zur alten ÖVP. Er ist ein bemühter Kanzler, der nun wieder verstärkt die klassische Klientel der Volkspartei ansprechen will – mit Fokus auf eine Mitte-rechts-Wählerschaft. Nehammer ist vermutlich, wie ihn seine Strategen schon ganz zu Beginn seiner Amtszeit positionieren wollten: ein normaler Österreicher, mehr der "Stahlarbeiter" als ein "Superstar", wie es in seinem Team damals formuliert wurde.

Am Ende seiner Rede hält Nehammer noch ein kurzes Plädoyer für die Zukunft Österreichs. "Packen wir es an", schließt er und setzt sich, noch während applaudiert wird, neben Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. Er sieht gelöst aus. (Katharina Mittelstaedt, 10.3.2023)