Während der Corona-Lockdowns wurden teils öffentliche zugängliche Flächen wie Spielplätze abgesperrt.

Foto: Christian Fischer

Am 11. März 2020 stufte die WHO Covid-19 als Pandemie ein, am 16. März jährt sich der erste Lockdown in Österreich zum dritten Mal. Er wurde von zahlreichen weiteren Maßnahmen und einer heftig diskutierten Impfpflicht flankiert. Nun ist es Zeit, Bilanz zu ziehen – mit Expertinnen und Experten, die die Pandemie begleitet haben.

Dazu hat der DER STANDARD sechs Punkte in den Vordergrund gestellt und die Fachleute um eine kritische Einschätzung ersucht: Zur bisherigen Impfstoffentwicklung und ihren Perspektiven, warum der Vorsorgegedanke von Public Health in den Pandemie gelitten hat und wie wir für eine mögliche weitere Pandemie aufgestellt sind.

Außerdem, wie viel wir über die psychosozialen Kollateralschäden der Pandemie wissen, was in den drei Jahren über den Umgang mit Gesundheitsdaten zutage kam sowie, wie die eingeführte und wieder abgeschaffte Impfpflicht einzuschätzen ist.

  • Impfstoffforschung – Fortschritte bei innovativen Vakzinen

Auf die Impfung hatten sich lange sämtliche Hoffnungen in der Pandemie-Bewältigung konzentriert. Und tatsächlich war sie der Gamechanger. Je stärker die Immunität in der Bevölkerung etabliert war – und das hat zu einem guten Teil die Impfung geschafft –, desto leichter konnte man hohe Infektionszahlen akzeptieren. Das hatte sich ja auch bei der sehr hohen Omikronwelle im Frühjahr 2022 gezeigt, die aufgrund der gut etablierten Immunität das Gesundheitssystem nicht mehr an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte.

Trotzdem schützt die Impfung nicht vor Infektion. Denn sie induziert keine Antikörper in den Schleimhäuten, dort wo die Infektion stattfindet, erklärt die Virologin Dorothee von Laer. Sie betont, dass man "nasale Impfstoffe, die eine Schleimhautimmunität bewirken, forcieren muss". Trotzdem hinke man dem Virus hinterher. Von Laer weiß: "Das Virus mutiert mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit, jede neue Omikron-Subvariante hat eine noch stärkere Immunflucht. Das mindert natürlich den Schutz vor Infektion noch weiter." Einen Grund zur Panik sieht sie deshalb nicht, man dürfe das Virus aber auch nicht als Schnupfen abtun.

Durch die starke Immunflucht wird man auch weiterhin mit starken Wellen rechnen müssen, sagt von Laer. Insgesamt schätzt sie den Schweregrad einer Sars-CoV-2-Erkrankung ähnlich ein wie den einer Influenza, wobei die Dauer der Immunität wohl etwas geringer sei. So wie die echte Grippe für Ältere und Vulnerable eine Gefahr darstellt, wird das auch bei Corona bleiben. Deshalb sollte man die Maske, etwa bei Besuchen in Krankenhaus oder Altenheim, weiter in der Tasche haben.

  • Public Health – Kein breites Wissen über die Gesundheit

Zu Beginn der Pandemie lag der Fokus ausschließlich auf dem Virus. Das sei auch logisch, sagt Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner am Zentrum für Public Health an der Med-Uni Wien. Die Situation war für alle komplett neu. "Aus Public-Health-Sicht haben wir dann sehr rasch darauf hingewiesen, dass dieser Fokus nicht der einzige ist, den wir im Blick haben müssen." Die psychische und soziale Gesundheit, etwa durch die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs, hätten stärker berücksichtigt werden müssen. "Der Zickzackkurs der Maßnahmen war alles andere als hilfreich. Zuerst alles zusperren, dann alles wieder aufsperren, das ist medizinisch nicht nachvollziehbar. Das hat sicher dazu beigetragen, dass die Stimmung in Teilen der Bevölkerung gekippt ist", sagt Hutter.

Generell hat ihm eine zusammenführende Sicht in der Pandemie-Bewältigung gefehlt. Das sei Folge eines größeren Problems: "Das Konzept von Public Health, also die Gesundheit der Bevölkerung durch Vorsorge zu schützen und zu fördern, existiert in den Köpfen vieler Menschen nicht. Das hat natürlich auch das Verhalten in der Pandemie beeinflusst." Hutter hofft, dass sich das nun ändert. Dass man das öffentliche Gesundheitswesen reformieren will und es auch schon erste Entwicklungen in diese Richtung gibt, etwa in Wien, ist für ihn ein gutes Zeichen.

Nach 1051 Tagen endet die Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln Wiens. Unser Videoteam hat sich rund um den Bahnhof Wien Mitte umgehört.
DER STANDARD

Auch Komplexitätsforscher Peter Klimek geht dieser übergreifende Zugang ab: "Die Diskussion dreht sich vielfach darum, ob wir in der Pandemie, etwa was die Todeszahlen anbelangt, besser oder schlechter abgeschnitten haben als ein anderes Land und welche Maßnahmen dafür verantwortlich waren. Aber das ist im Grunde eine müßige Debatte." Denn nicht nur ob ein Lockdown eine Woche länger oder kürzer gewesen sei, erkläre die Todeszahlen, sondern vor allem, wie das Gesundheitssystem insgesamt aufgestellt sei. "In den skandinavischen Ländern etwa ist der Vorsorgegedanke viel besser etabliert, die Menschen haben ein ganz anderes Gesundheitsbewusstsein und Wissen zum Thema." Dadurch hätte sich die Bevölkerung, auch ohne strenge Maßnahmen, so verhalten, dass weniger Ansteckungen passiert sind.

  • Nächste Pandemie – Bessere Vorbereitung nur bedingt gegeben

Niemand wünscht sich eine weitere Pandemie, trotzdem sollte man auf so einen Fall vorbereitet sein – anders als im Jahr 2020. Doch Expertinnen und Experten sind sich nicht sicher, ob wir nun besser dastehen als vor drei Jahren. "Es hat bei vielen eine steile Lernkurve gegeben, aber die ist wenig wert, wenn man die Erkenntnisse nicht dokumentiert und die entsprechenden Schlüsse daraus zieht", sagt Komplexitätsforscher Peter Klimek. Hier sieht er aber keine großen Entwicklungen, die in der Pandemie aufgebauten Strukturen und personellen Ressourcen werden aktuell eher wieder zurückgebaut. "Wichtig wäre, die jetzt erworbenen Kompetenzen zu erhalten und eine Art Stand-by-Modus zu finden."

Auch der Molekularbiologe Ulrich Elling von der Akademie der Wissenschaften zweifelt beim Blick in die Zukunft: "Ich bemerke eine starke Abstumpfung in der Bevölkerung, man hat es nie geschafft, die Bedeutung der Maßnahmen so zu erklären, dass alle sie verstanden und akzeptiert haben." Deshalb müsse man die Health Literacy, das Gesundheitsbewusstsein, dringend forcieren.

Virologin von Laer kritisiert, dass es keine zusammenführende Institution in Österreich gibt, die den Fokus auf der Gesamtgesundheit der Bevölkerung hat und wo alles an Wissen und Daten zusammenläuft: "Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit Ages, die das in der Pandemie gemacht hat, überwacht nur, aber macht praktisch keine Forschung." Es bräuchte Institutionen wie das Robert-Koch-Institut und das Paul-Ehrlich-Institut in Deutschland oder das National Health Institute in Großbritannien, die Daten und Forschung zu Infektionserkrankungen vereinen.

  • Kollateralschäden – Keine Erkenntnis über Gruppen ohne Lobbys

Mehr Menschen, die sich Lockdown-bedingt einsam fühlten, mehr Männer, die daheim gegen Frau und Nachwuchs gewalttätig wurden, sinkende Lernkurven und zunehmendes Übergewicht von Kindern infolge der Schulschließungen: Genau erforscht wurden diese immer wieder genannten Pandemiefolgen laut der Politikwissenschafterin Katharina T. Paul nicht. Denn es fehle ein Gesamtblick.

Das habe mit einem Versäumnis zu tun: "Es wäre nötig gewesen, die psychosozialen Auswirkungen in aller Breite zu erheben", sagt Paul.

Nun hat die Politik für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse auch in normalen Zeiten eher wenig Interesse. In der Pandemie war das nicht anders: "Wir Sozialwissenschafter haben uns bemüht, aber wir wurden nicht ausreichend gehört", sagt der Kommunikationswissenschafter und Corona-Panel-Mitarbeiter Jakob-Moritz Eberl. Das Panel hat Einstellungen und Verhaltensweisen der österreichischen Bevölkerung während der Pandemie abgefragt. Als universitäres Projekt waren seine Ressourcen begrenzt

Auf einmal waren Straßen und Plätze leer – wie hier am Wiener Donaukanal am 20. 3. 2020 um 13.45 Uhr. Im ersten Lockdown hielt sich noch der Großteil der Menschen an die Vorgaben, das sollte sich im weiteren Pandemieverlauf ändern.
Foto: Christian Fischer

Dabei, so Paul, hätte es besonders im Sommer 2021 Vorbereitung auf den dann von der besonders gefährlichen Delta-Variante geprägten Winter gebraucht. Das Problem sei, "dass in Österreich keine Traditionen für die wissenschaftliche Beratung der Politik existieren", sagt Paul. Mangels kontinuierlicher Forschung im Corona-Pandemie-Verlauf würden die psychosozialen Folgen von Pandemie und Maßnahmen nun "in einer Grauzone" liegen, kritisieren die beiden Fachleute. Wie das in Bevölkerungsgruppen ohne Lobby ist, sei überhaupt völlig unerforscht, etwa bei Frauen mit familiären Pflegeaufgaben.

  • Datenprobleme – Mangelndes Wissen über Lage in Spitälern

Die zentrale Message, woran es bei der Datenerfassung in Österreich mangle, sei in der Politik noch immer nicht angekommen, meint der Statistiker und Informatiker Erich Neuwirth: "Die Erkenntnis, dass bessere Daten bessere politische Entscheidungen ermöglichen, fehlt offenbar nach wie vor." Als Professor im Ruhestand erarbeitete er aus anfangs privatem Interesse in seinem "Covid-Analysen"-Blog profundes statistisches Wissen über den Pandemieverlauf. Aber von zwei Einladungen in Beratungsgremien der Regierung 2020 abgesehen, habe es an seiner Expertise von der Politik kein Interesse gegeben. Nur in Wien habe ihn Bürgermeister Michael Ludwig in den Covid-Beraterstab aufgenommen.

Die Probleme hätten zum Teil mit mangelnder grundlegender Datenkompetenz zu tun, sagt Neuwirth. Erst vor kurzem habe im Dashboard des Gesundheitsministeriums die Quersumme der tagesaktuell durchgeführten PCR-Tests nicht gestimmt. "So etwas darf nach drei Jahren nicht passieren", sagt der Experte.

Unter dem Druck der Pandemie, die plötzlich begann und dann lange andauerte, habe sich datenmäßig aber auch einiges verbessert, sagt der Simulationsforscher Nikolas Popper. Das EMS, die gemeinsame Datenbank der Bezirksverwaltungsbehörden, Landesanitätsdirektionen, des Gesundheitsministeriums und der Gesundheitsagentur Ages, sei nun kompletter, der elektronische Impfpass habe während der Pandemie besser funktioniert. Das Hospitalisierungsregister hingegen sei nie richtig in Gang gekommen: "Beim Datensammeln in Krankenhäusern endet es für das Ministerium derzeit. Hier haben wir gemerkt, was in Österreich noch immer nicht geht", sagt Popper.

Das jedoch hemmt laut beiden Experten die Erkenntnisse über die Auswirkungen der Pandemie. Die erhobenen Belagszahlen in Spitälern allein etwa reichten nicht, denn die Dauer der Aufenthalte sei nicht bekannt, sagt Neuwirth. Hinzu komme, dass nur wenig Daten der niedergelassenen Ärzteschaft genutzt wurden, so Popper. Das erschwere die Antwort auf eine drängende Frage: "Was ist mit dem Zusammenspiel von Krankenhäusern und der Versorgung außerhalb wie bei Long Covid?"

  • Impfpflicht – Schaden für politische Glaubwürdigkeit

Die Verwerfungen, die letztlich zur Impfpflicht führen sollten, hätten sich angekündigt – aber die Verantwortungstragenden hätten großteils weggeschaut, sagt der Kommunikationswissenschafter und Mitarbeiter des Corona-Panels, Jakob-Moritz Eberl: "Im Frühjahr und Sommer 2021 haben wir uns bemüht, zu vermitteln, dass niederschwellige Impfangebote und motivierende Kampagnen einer Impfpflicht vorzuziehen sind. Und dass damit rasch begonnen werden sollte", sagt er.

Von impfskeptischen Menschen nämlich werde eine generelle Pflicht zum Stich – wie sie Österreich im Jänner 2022 schließlich als einziges europäisches Land beschließen sollte – "als Strafmaßnahme verstanden", und das führe zu "Reaktanz". Vor allem wenn die Pflicht "ohne Begleitmaßnahmen wie systematische Beratungen eingeführt wird", fügt die Politikwissenschafterin Katharina T. Paul hinzu.

Genau so kam es aber dann – und intensivierte den laut Paul bereits angelegten ideologisierten Umgang mit der Corona-Impfung. "Im Sommer 2021 gab es klare Mehrheiten für eine berufsspezifische Impfpflicht, also für Gesundheits- und Lehrpersonal."

Die Impfpflicht-Gemengelage sowie der laut den Fachleuten hinterfragenswerte, weil nicht umsetzbare Lockdown für Ungeimpfte hätten Maßnahmen- und Impfgegnern leichtes Spiel erteilt. Die Pflichtwiederabschaffung im Juni 2022 habe dann "die Glaubwürdigkeit der Corona-Politik nochmals geschwächt".

Das Resultat sei Vereinzelung statt der zu Pandemiebeginn beschworenen Solidarität – dass jeder und jede allein für den Umgang mit dem Virus zuständig sei. (Irene Brickner, Pia Kruckenhauser, 11.3.2023)