Die Ukraine braucht Waffen und Munition. Reicht das Engagement der westlichen Staaten?

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Westliche Politikerinnen und Politiker haben zwar wiederholt ihr Engagement für die Ukraine bekräftigt, aber der Westen liefert bei weitem nicht genug Geld und Waffen, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, einen entscheidenden Sieg gegen Russland zu erringen, sagt der Wirtschaftswissenschafter Daniel Gros im Gastkommentar.

Ein Jahr nach der russischen Invasion hat sich der Ukrainekrieg zu einem Abnutzungskrieg entwickelt. Jede Seite hofft, die andere zuerst zu zermürben. Die überlegene Moral und Führung der Ukraine verschafft ihr noch immer einen wichtigen Vorteil. Doch ist in einem Abnutzungskrieg das Ressourcengleichgewicht der entscheidende Faktor.

Das wirtschaftliche Potenzial der Ukraine ist zu vernachlässigen. Nach einem Rückgang um über 30 Prozent in 2022 beläuft sich ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) nun auf lediglich ein Zehntel des russischen. Und diese Kluft wird weiter wachsen: Der Internationale Währungsfonds erwartet für 2023 ein leichtes Wachstum der russischen Wirtschaft. Auf sich allein gestellt wäre die Ukraine eindeutig außerstande, einen Abnutzungskrieg lange durchzuhalten.

Doch ist die Ukraine nicht allein; Sie wird von der EU, Großbritannien und den USA unterstützt: Volkswirtschaften mit einem gemeinsamen BIP von fast 45 Billionen US-Dollar. Russlands BIP dagegen beläuft sich auf lediglich 1,6 Billionen US-Dollar – etwa so viel wie Italiens und knapp über drei Prozent des BIP des Nato-Bündnisses. Nach Kaufkraftparität jedoch sinkt der relative Vorteil des Westens beträchtlich: von etwa 30:1 auf 10:1. Der präziseste Vergleich zwischen den Vorteilen der beiden Seiten dürfte daher bei etwa 20:1 liegen, weil Russland einen großen Teil seiner militärischen Ausrüstung kostengünstig im eigenen Land produziert.

Ernüchternde Zahlen

Nun denken Sie womöglich, aus diesem enormen wirtschaftlichen Vorteil ergäbe sich ausreichende Unterstützung, um der Ukraine den Sieg in einem Abnutzungskrieg gegen Russland zu ermöglichen. Doch ein näherer Blick auf die Zahlen ist ernüchternd. Der Ukraine Support Tracker des Kiel-Instituts für Weltwirtschaft zeigt, dass die EU und die USA der Ukraine zusammen 150 Milliarden US-Dollar zugesagt haben. Das sind etwa 0,3 Prozent ihres BIP, und nicht alles davon wurde bereits ausgezahlt oder geliefert.

Würden Finanzhilfen von insgesamt 0,2 bis 0,3 Prozent vom BIP der Geberländer ausreichen, um der Ukraine einen entscheidenden Materialvorteil zu verschaffen? Absolut nicht. Tatsächlich müsste Russland bloße vier bis sechs Prozent seines BIP aufwenden, um mit einem derartigen Finanzierungsniveau gleichzuziehen. Da der russische Präsident Wladimir Putin inzwischen eine nahezu absolute Macht angehäuft hat und die russische Bevölkerung sich bisher als im Allgemeinen duldsam erwiesen hat, scheint dies ohne weiteres machbar. Um die Kosten für Russland untragbar zu machen, müsste der Westen seine Unterstützung für die Ukraine verdoppeln oder sogar verdreifachen.

Wirtschaftliches Potenzial in militärische Mittel umzusetzen erfordert Zeit. Kurzfristig muss man zudem die verfügbaren Bestände an schwerem Gerät jeder Seite in Betracht ziehen. Und auch hier bleibt die Unterstützung für die Ukraine unzureichend.

Quantitativer Vorteil

Die Panzersaga ist ein Paradebeispiel hierfür. Mehr als ein Jahr nach der Invasion, und über einen Monat nachdem Deutschland den europäischen Ländern die Erlaubnis zur Abgabe in Deutschland gefertigter Panzer vom Typ Leopard 2 an die Ukraine erteilt hat, wurden dem Land nur ein paar Dutzend zur Verfügung gestellt. Die Lieferung der übrigen steht noch aus. Die russischen Panzer mögen schlechter sein, aber Russland hat tausende davon. Die "intelligente" westliche Munition mag hundertmal effizienter sein als die russische, aber sie ist hundertmal so teuer, und es steht wenig davon zur Verfügung. Dasselbe Muster gilt in vielen anderen Bereichen.

Stalin soll einmal gesagt haben, dass Quantität eine eigene Qualität hat. Es ist unrealistisch, zu erwarten, dass die Ukraine mehr von ihrem Gebiet befreit oder die Russen gar komplett vertreibt, wenn Russland einen derart eindeutigen quantitativen Vorteil bei den Waffen und der Zahl potenzieller Kämpfer hat.

Diese Situation steht im krassen Widerspruch zu den europäischen und US-amerikanischen Solidaritätsbekundungen gegenüber der Ukraine. Meinungsumfragen bestätigen, dass 74 Prozent der Europäerinnen und Europäer die Hilfeleistung der EU gegenüber der Ukraine und ihre Sanktionen gegenüber Russland weiterhin unterstützen. In den USA liegt die öffentliche Unterstützung für die Lieferung von Waffen an die Ukraine bei fast 50 Prozent, und in den letzten Monaten haben sowohl Präsident Joe Biden als auch Finanzministerin Janet Yellen Kiew besucht, um die Botschaft auszusenden, dass die Ukraine weiterhin auf die USA zählen könne.

Man stelle dies dem Golfkrieg von 1990 bis 1991 gegenüber, der damit begann, dass ein großes Land (der Irak) seinen viel kleineren Nachbarn (Kuwait) besetzte. Aus Furcht, die Annexion Kuwaits könne dem irakischen Diktator Saddam Hussein die Kontrolle über einen zu großen Teil der weltweiten Ölreserven verschaffen, sammelten die USA eine Koalition aus 35 Ländern um sich, die die demoralisierten Truppen des Irak mit Leichtigkeit besiegte. Während Deutschland selbst keine Soldaten schickte, leistete es einen Beitrag von sechs Milliarden US-Dollar – viel mehr (als Anteil vom BIP), als es der Ukraine gegeben hat.

Taten folgen lassen

Die westlichen Regierungen müssen sich womöglich bald entscheiden: Entweder sie verdoppeln oder verdreifachen ihre Material- und Finanzhilfe an die Ukraine, oder sie sehen zu, wie Russland die von ihm heute besetzten Gebiete behält. Die Ukraine hat geschworen, die territorialen Eroberungen nie zu akzeptieren, und beharrt mit Unterstützung ihrer Verbündeten darauf, dass Verhandlungen erst beginnen können, nachdem Russland sich vollständig von ukrainischem Gebiet zurückgezogen hat. Doch wenn das das Ziel ist, muss der Westen seinen Versprechungen Taten folgen lassen. (Copyright: Project Syndicate, Übersetzung: Jan Doolan, Daniel Gros, 12.3.2023)