28 Jahre bedeckte Fatma Akay-Türker ihre Haare: "Am meisten hat mich die Reaktion meiner Töchter gerührt – wie glücklich sie waren, als ich sie ohne Kopftuch in die Schule brachte."

Foto: Heribert Corn

Fatma Akay-Türker war die einzige Frau neben 15 Männern im Obersten Rat der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), als sie im Juni 2020 zurücktrat, weil die IGGÖ "die Abwertung der Frauen institutionalisiert" habe und nur "Stillstand bewahren" wolle. Damals trug sie noch Kopftuch. Nach fast drei Jahrzehnten legte es die Historikerin und ehemalige Islamlehrerin ab. Jetzt will sie mit der "Muslimischen Frauengesellschaft in Österreich" die gesellschaftliche Teilhabe muslimischer Frauen fördern.

STANDARD: Wie nehmen Sie als gläubige Muslimin die lebensgefährlichen, für viele tödlichen Proteste (nicht nur) der Frauen im Iran gegen das von Männern erzwungene Kopftuch wahr?

Akay-Türker: Abgesehen davon, dass das Ablegen des Kopftuchs auch in Österreich nicht so leicht ist, weil Frauen, die das tun, starkem gesellschaftlichem Druck und Abwertung ausgesetzt sind, bestürzt mich, was gerade im Iran abläuft. Was Mahsa Amini und andere Frauen erleben mussten, kann ich mit meinem Verständnis des Islam nicht vereinbaren. Meiner Auffassung nach ist das Kopftuch keine Pflicht, aber ich respektiere auch jene, die eine andere Meinung vertreten, weil es sich beim Kopftuch nicht um Urteilsverse, sondern um offene Verse handelt, die jeder anders auslegen kann. Es ist unnachvollziehbar, auch im Namen des Islam, was dort abläuft.

STANDARD: Welche Erklärung haben Sie für die nachgerade wahnhafte Fixierung vieler muslimischer Männer und vor allem Religionsführer auf das Kopftuch und die Haare der Frauen?

Akay-Türker: Am Beispiel Iran wird erneut offensichtlich, dass das Kopftuch eine hochpolitische Angelegenheit ist, die von Männern bestimmt wird. Sie verlangen von Frauen ein öffentliches Bekenntnis, das sie selbst nicht bereit sind abzulegen. Warum kämpfen Männer in europäischen Anzügen mit Krawatten nur ums Kopftuch? Niemand kämpft darum, dass sich die Männer wie der Prophet kleiden oder Vollbart tragen müssen, von den Frauen wird das Kopftuch verlangt. So sind sie als Musliminnen sichtbar und eher potenzielle Opfer von rassistischen Übergriffen und Diskriminierung. Muslimische Männer können unauffällig und unbehelligt durchs Leben gehen. Eine der größten Reformen des Koran war die Abschaffung des Klerus. Heutzutage sehen wir aber, dass auch muslimische Länder oder sogar Strukturen in Österreich die Rolle des Klerus übernehmen oder übernehmen wollen. Ich solidarisiere mich voll mit meinen Schwestern im Iran, wünsche ihnen viel Kraft und Erfolg mit ihren Slogans, ob auf Deutsch, Persisch oder Kurdisch: Frau, Leben, Freiheit! Zan, Zendegi, Âzâdi! Jin, Jiyan, Azadî!

STANDARD: Sie haben bewusst am Internationalen Frauentag Ihre neue Initiative präsentiert: die Muslimische Frauengesellschaft in Österreich (MFGÖ). Was ist das Ziel?

Akay-Türker: Der Verein wurde gegründet, um den seit Jahrhunderten andauernden misogynen Ansichten entgegenzutreten, die der Frau im Namen der Religion eine untergeordnete Stellung in der Gesellschaft zuweisen und behaupten, Gott erschuf den Mann an Vernunft, Verständnis und Intelligenz überlegen. Da diese Themen und Diskurse in Bezug auf Frauen und Gender- und Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft und insbesondere in der muslimischen Community oft tabuisiert werden, sahen wir uns in der Verantwortung, diesen Verein zu gründen. Wir wollen von innen heraus einen Veränderungsprozess anstoßen, der der Vielfalt der Deutung religiöser Texte und unserem Kontext in Österreich im 21. Jahrhundert Rechnung trägt. Wir wollen als Teil dieser Gesellschaft Verantwortung übernehmen und Seminare, Beratungsangebote für Frauen, Mädchen und Jugendliche sowie Diskussionsveranstaltungen und Symposien organisieren, um die gesellschaftliche Partizipation muslimischer Frauen zu fördern.

STANDARD: Hat sich mit Blick auf die untergeordnete Rolle der Frauen in der IGGÖ seit Ihrem Rücktritt 2020 eigentlich etwas verändert?

Ein Bild aus Fatma Akay-Türkers Zeit als Frauenbeauftragte der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ). Mehr als zweieinhalb Jahre nach Ihrem Rücktritt sagt sie heute: "Die Frauen dort schweigen mehr als je zuvor."
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Akay-Türker: Wenn ich eine Veränderung gesehen hätte, hätte ich kein Bedürfnis gehabt, einen neuen Verein zu gründen. Leider hat sich die Situation noch verschlechtert, und die Frauen in der IGGÖ schweigen mehr als je zuvor. Ich habe die Hoffnung aufgegeben und meine Kritik und meinen Kampf eingestellt, da ich erkannt habe, dass es sich um ein jahrhundertealtes System und eine Struktur handelt, die schwer oder kaum zu ändern sind. Ich glaube auch nicht, dass sie interessiert sind, dieses System zu ändern, weil viele davon profitieren. Darum habe ich beschlossen, meinen eigenen Weg zu gehen. Auch ich habe in unserem demokratischen Rechtsstaat Österreich das Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf Selbstbestimmung.

STANDARD: Sehen Sie innermuslimisch Bewegung seitens der Frauen oder einiger Gruppen?

Akay-Türker: Es gibt noch keine Bewegung, aber ich beobachte eine große Neugierde bei Frauen. Seit meinem Rücktritt bin ich zu einer inoffiziellen Anlaufstelle geworden, nicht nur in Österreich, auch aus Deutschland oder der Türkei kommen Anfragen, etwa ob ich mein Buch übersetzen werde. Die Frauen, konservative und säkulare, warten und erwarten Lösungen. Die traditionell-konservativen Frauen sind mit patriarchalen Systemen und Strukturen nicht einverstanden, da sie darunter leiden. Den säkularen Frauen wiederum wurde ein Schuldgefühl vermittelt und die Mitsprache in religiösen Angelegenheiten abgesprochen. Dieses System vermittelt nämlich nur ein Frauenbild. Wer ein Kopftuch trägt, gilt als vollkommene und fromme Muslimin, wer keines trägt, wird je nach Religionsverständnis als schlechte oder gar keine Muslimin angesehen.

STANDARD: Sie haben sich aus einer arrangierten Ehe befreit und nach 28 Jahren auch vom Kopftuch. Wie hat sich die Frau unter dem Kopftuch von der ohne in ihrem Selbstverständnis und Handeln als Muslimin unterschieden?

Akay-Türker: Jeder Mensch sollte sich ein Leben lang weiterentwickeln. Von Prophet Muhammed ist überliefert: "Derjenige, dessen zwei Tage gleich sind, ist im Verlust." Das hat mich in meinen jungen Jahren bewegt, mich ständig weiterzubilden. Dadurch hat sich einiges an meinem Selbstverständnis und Handeln geändert. Ich bin noch glücklicher, freier und gläubiger als zuvor. Mein Glück, meine Freiheit und Emanzipation verdanke ich dem Koran. Hätte ich ihn nicht so intensiv studiert und reflektiert, hätte ich höchstwahrscheinlich mein traditionell-konservatives Leben in patriarchalen Strukturen weitergeführt.

STANDARD: Welche Reaktionen erlebten Sie "unbedeckt" in der muslimischen Community?

Akay-Türker: Es wurde schlecht über mich geredet, mir wurde auch mitgeteilt, dass in den Millî-Görüş-Moscheen negative Propaganda über mich verbreitet wird, aber das ist mir egal. Es wurde behauptet, ich sei eine Missionarin und Freimaurerin, hätte das Kopftuch nur für Geld getragen und dann abgelegt. Eine Person sagte sogar, dass ich ohne Kopftuch sehr gut in ein Bordell passen würde. Unlängst wollte mich eine Frau, anscheinend eine junge Salafistin, belehren und sagte "Ich habe die Wahrheit" und zweimal "Du musst sterben". Den letzten Satz versuchte sie noch zu relativieren, indem sie sagte: "Eines Tages wirst du sterben. " Die Menschheit leidet seit Jahrtausenden unter denen, die behaupten, die einzige Wahrheit zu verkünden.

STANDARD: Ihre Töchter sind 13 und acht Jahre alt. Was sagen sie und Ihre zwei erwachsenen Söhne, aber auch Ihr Ehemann und Ihre Eltern zu Ihrem Schritt und Engagement?

Akay-Türker: Sie alle respektieren und akzeptieren meine Aussagen und Entscheidungen und sind stolz auf mich. Am meisten hat mich die Reaktion meiner Töchter berührt, zu sehen, wie glücklich sie waren, als ich sie ohne Kopftuch in die Schule brachte. Da dachte ich: "Was haben wir unseren Kindern angetan ..." Die meisten von uns Frauen haben ein Leben unter Druck und Benachteiligungen zwischen Verboten und Geboten gelebt. Das wünsche ich keinem. Meine ganzen Bemühungen sind auch für sie und die nächste Generation. Wir hatten keine andere Möglichkeit. Uns wurde nur eine Art des Glaubens gepredigt: "Das ist die Religion, entweder folgst du dem, was wir dir predigen, oder du landest in der Hölle." Das nenne ich jetzt Zwangs- und Angsttheologie. Gott ist barmherzig, und ein anderes Religionsverständnis und eine andere Lebensweise sind sehr wohl möglich.

STANDARD: Was ist Ihre wichtigste Botschaft an muslimische Mädchen und Frauen?

Akay-Türker: Bildung! Sie sollen hinterfragen, reflektieren und zuerst wissen, dann glauben. Nicht umgekehrt. Es ist nicht Gotteswille, dass Frauen auf der Welt nur unglücklich sind. Es ist an der Zeit, dass wir uns aus den Fesseln des Patriarchats lösen. Frauen wurde auch vom Lachen mit unterschiedlichen Argumenten abgeraten. Löst euch von solchem Aberglauben! Habt keine Angst und lacht! (Lisa Nimmervoll, 13.3.2023)