Es ist eine lange Latte an Ideen, die Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) bei seiner "Rede zur Zukunft der Nation" am vergangenen Freitag formulierte. Am Wochenende machten sich die Ministerinnen und Minister emsig ans Abarbeiten. Zumindest jene aus dem türkisen Regierungsteam, die konkrete Schritte zur Umsetzung der Kanzlerwünsche verlautbarten oder Nehammers Forderungen bekräftigen.

Eine Wortmeldung stach dabei heraus – sowohl beim grünen Koalitionspartner als auch in Fachkreisen. Aber nicht im positiven Sinn.

Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer bei seiner Zukunftsrede: Er stellte Forderungen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Klima auf.
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Was war passiert? Integrationsministerin Susanne Raab hatte sich am frühen Samstagmorgen per Aussendung der Forderung Nehammers nach einer Neuregelung der Sozialleistungen für Migrantinnen und Migranten angeschlossen. Sozialleistungen sollen in vollem Umfang erst dann bezahlt werden, wenn der Aufenthalt in Österreich fünf Jahre beträgt, bekräftigte die Ministerin. Dies würde sowohl illegale Migration reduzieren als auch eine schnellere Integration von bereits legal in Österreich aufhältigen Zugewanderten in den Arbeitsmarkt nach sich ziehen.

"Eine Reform des Sozialsystems mit einer Wartefrist bis zum Bezug würde Einwanderung in das Sozialsystem bedeutend reduzieren und gleichzeitig einen schnelleren Einstieg in den Arbeitsmarkt bewirken", zeigte sich Raab überzeugt.

Kein Anreiz für Pflegende

Die Grünen reagieren ablehnend – und ein wenig hämisch. Sozialminister Johannes Rauch ließ auf STANDARD-Anfrage ausrichten: "Den Bezug von Sozialleistungen für Zuwanderer und Zuwanderinnen in den ersten fünf Jahren zu beschränken wird nicht dazu führen, 10.000 Pflegekräfte aus dem Ausland für Österreich zu gewinnen, wie es Bundeskanzler Karl Nehammer in seiner Rede als Ziel formuliert hat."

Maßgeblich für den Bezug von Sozialleistungen müsse der Bedarf an Unterstützung sein und nicht die Dauer des Aufenthaltes in Österreich oder das Ausmaß der Beschäftigung, hieß es aus dem Büro von Minister Johannes Rauch.
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Österreichische Unternehmen würden mittlerweile in vielen Branchen händeringend nach Arbeitskräften suchen. "Es braucht daher attraktive Rahmenbedingungen, damit Menschen nach Österreich kommen und hier arbeiten möchten."

Maßgeblich für den Bezug von Sozialleistungen müsse der Bedarf an Unterstützung sein und nicht die Dauer des Aufenthaltes in Österreich oder das Ausmaß der Beschäftigung, hieß es aus dem Ministerbüro. Damit spielt Rauch auf eine weitere Debatte an, in der sich die Regierungsparteien zuletzt uneinig waren: diejenige über die von Arbeitsminister Martin Kocher ins Spiel gebrachte Kürzung von Sozialleistungen für Teilzeitbeschäftigte.

Ökonom Badelt warnt vor Kinderarmut

Äußerst kritisch zeigte sich auch Christoph Badelt, Chef des Fiskalrates. Man müsse "sehr, sehr aufpassen, dass man nicht in eine Stimmung kommt, wo sich alles gegen Ausländer richtet", sagte der Ökonom in der ORF-"Pressestunde".

Er sei sich nicht ganz sicher, an welche Sozialleistungen Nehammer denke. "Worauf das allenfalls abzielen könnte, wäre die Familienbeihilfe oder der ganze Bereich der Sozialhilfe. Da bin ich schon sehr, sehr skeptisch." Kürzungen der Familienbeihilfe würden zu einer massiven Zunahme von Kinderarmut führen, warnte Badelt.

Die Sozialhilfe sei "das unterste Sicherheitsnetz", es halte jene Menschen ökonomisch lebensfähig, die kein anderes Einkommen haben, sagt Fiskalratschef Christoph Badelt.
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Die Sozialhilfe sei "das unterste Sicherheitsnetz", es halte jene Menschen ökonomisch lebensfähig, die kein anderes Einkommen haben: "Wenn Sie denen jetzt, weil sie Ausländer sind, für die ersten fünf Jahre die Hälfte wegnehmen, dann möchte ich gern wissen, wovon die dann leben werden."

Grüner Vizeparteichef rügt ÖVP

Nehammers Kürzungsambitionen bei der Sozialhilfe sind, wie berichtet, einer von mehreren Aspekten seiner Rede, die koalitionsinterne Spannungen nach sich ziehen. Das Festhalten des Kanzlers am Verbrennungsmotor kommentierte die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler am Samstag so: "Ideologisches Festhalten am Verbrenner und ein bisschen Technologie werden das Klima nicht retten."

"Die ÖVP ist im Rückwärtsgang unterwegs", kritisiert Vize-Parteichef Stefan Kaineder.
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Stefan Kaineder, Landesrat in Oberösterreich und – wie auch Gewessler – Vize von Parteichef Werner Kogler, legt im Gespräch mit dem STANDARD nach. Nehammers Rede habe gezeigt, "mit welchem Tunnelblick die ÖVP in die Zukunft blickt". Die Kanzlerpartei mache sich mit derartigen Ansagen "verlässlich zum Sprachrohr der Öl-Lobby. Die ÖVP ist im Rückwärtsgang unterwegs."

Was all das für die Zusammenarbeit in der Koalition heiße? "Wir werden es so halten wie in den vergangenen drei Jahren: Punkt für Punkt eines gemeinsamen Programms abarbeiten." Nehammers Ansagen seien "programmatische Ankündigungen, von denen viele so nicht umgesetzt werden."

FPÖ knackt 30-Prozent-Marke

Laut einer Umfrage von Unique Research im Auftrag von Profil liegt die ÖVP übrigens derzeit bei 22 Prozent, die Grünen kämen auf zehn Prozent. Die SPÖ würde 25 Prozent schaffen. Klarer Wahlsieger wäre die FPÖ: mit satten 31 Prozent. (Stefanie Rachbauer, 12.3.2023)