Wer sich mit dem Maskenmann im Nahkampf anlegt, kommt selten lebendig aus der Begegnung raus.

Foto: Endnight Games

Kelvin hat es einmal mehr sehr gut gemeint und mittlerweile 20 Forellen gefangen, die er vor dem Hauseingang zu einem Haufen glitschiger Fischkadaver auftürmt. Virginia hält ihre Pistole in ihrem Arm, in den beiden anderen trägt sie eine Schrotflinte. Ja, sie hat drei Arme und auch ein Extrabein, was natürlich praktisch ist, denn damit kann sie besser die Kannibalen abwehren, die gerade die mühevoll aufgebaute Basis stürmen. Und warum trägt sie im Winter nur einen blauen Schwimmanzug? Egal, willkommen bei "Sons of the Forest", einem Spiel, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet.

Kurz zur Vorgeschichte: "Sons of the Forest" ist die Fortsetzung des immens populären "The Forest" vom Entwicklerstudio Endnight Games. Das Urspiel aus dem Jahr 2018 genießt unter Fans Kultstatus und hat sich insgesamt 5,3 Millionen Mal verkauft. Das war eigentlich überraschend, denn auf den ersten Blick wirkte "The Forest" wie eines dieser Survivalspiele, die zu spät zur Party kamen, denn der Hype um das Genre war 2018 eigentlich schon fast wieder vorbei. Aber: Das Spiel wurde von dem nur vierköpfigen Team immer weiter entwickelt und gilt heute als Musterbeispiel, wie das Early-Access-Modell am PC aussehen muss.

Nun ist also der Nachfolger ebenfalls im Vorabzugang erschienen und brachte erneut Erstaunliches zustande: Der Steam-Server crashte aufgrund des Ansturms und der Shop ging unter der Last der Nachfrage in die Knie. Seitdem ist "Sons of the Forest" eines der meistgespielten Games auf der Plattform.

Ein Spiel kopiert sich selbst

Zur Prämisse: Die Spielfigur ist Teil einer militärischen Spezialeinheit, die auf einer einsamen Insel vor der Küste Kanadas die Familie Puffton aufspüren soll. Multimilliardär Edward Puffton hat die Insel kürzlich gekauft, und schon beim ersten Besuch sind er sowie seine Gattin Barbara und Tochter Virginia spurlos verschwunden. Der Hubschrauber der Spielfigur wird jedoch von Unbekannten abgeschossen. Doch natürlich überlebt der Protagonist (weibliche Spielfiguren gibt es noch keine) und wird an der Küste angespült. Bald wird klar: Will man nicht als Hauptgang im Abendmenü der in den Bäumen hockenden Kannibalen enden, muss man sich verteidigen, einen Unterschlupf bauen und schleunigst herausfinden, wie man von der Insel wieder wegkommt.

Veteranen des ersten Teils könnten jetzt etwas gelangweilt mit den Augen rollen, gleicht dieses Szenario doch bis ins kleinste Detail jenem des Vorgängers. Mit dem Unterschied, dass in "The Forest" ein Flugzeug und kein Hubschrauber abstürzte. Warum soll man also den noch unfertigen zweiten Teil spielen, wo der Erstling doch kaum Wünsche offen ließ?

Größerer Rucksack, vierfache Spielwelt

Die erste offensichtliche Änderung ist der Rucksack. Dieser ist deutlich größer als im Vorgänger und lässt auf mehr Crafting hoffen. Genretypisch werden in der Rucksack-Ansicht Stöcke, Federn und Kieselsteine kombiniert, um Pfeile für den Bogen zu basteln. Aus zwei Stöcken, Klebeband und dem Taschenmesser wird ein praktischer Speer. Außerdem darf man verschiedene Kräuter mischen, die dann ihr heilendes Potenzial entfalten oder den Charakter vergiften. Leider ist die Zahl der tatsächlich möglichen Item-Kombinationen noch arg begrenzt, soll aber stetig mit kommenden Updates ausgebaut werden.

Der Rucksack ist deutlich größer als im Vorgänger.
Foto: Endnight Games

"Größer" war auch das Motto beim Design der Spielwelt: Diese soll nun viermal größer sein als die recht übersichtliche Insel in "The Forest". Dafür steht uns von Start weg ein Navigationsgerät zur Verfügung. Im Vorgänger musste man sich noch anhand von Markierungen und Landmarken orientieren.

Ein erstaunlich cleveres Bausystem

Die zweite große Neuerung ist das Bauen. Nun gibt es zwei unterschiedliche Modi: Wie im ersten Teil kann man auf vorgefertigte Baupläne zurückgreifen und etwa ein Baumhaus als eine Art Blaupause in der Landschaft platzieren. Als Spieler reicht dann ein Druck auf die E-Taste, und aus den hoffentlich vorher gesammelten Materialien wird automatisch eine Unterkunft gebaut. Der zweite und spannendere Modus ist aber das freie Bauen. Denn in "Sons of the Forest" rasten Baumstämme, Stöcke und Kannibalenknochen endlich so ein, dass man sinnvolle Strukturen errichten kann.

Kannibalen stürmen die selbst gebaute Palisade.
Foto: Endnight Games

Man kann nun Baumstämme auch teilen, halbieren oder vierteln, was neue Möglichkeiten eröffnet. Durch ein cleveres System aus Stützen und diagonalen Baumstämmen lassen sich sogar komplexe Dachkonstruktionen basteln. Kein Vergleich zu "The Forest", wo schon die freie Konstruktion eines simplen Holzsteges wegen der fehlenden Einrastfunktion zum Test der eigenen Frusttoleranz wurde. Hier haben die Entwicklerinnen und Entwickler von Endnight Games ganz klar an den richtigen Stellschrauben gedreht. Leider sind noch nicht allzu viele Rezepte integriert, aber das Entwicklerstudio hat seit dem Release bereits mehrere Baupläne per Patch nachgeliefert.

Die dreibeinige Helferin

Zu den Neuerungen gehört auch der eingangs erwähnte Helfer Kelvin. Dieser gehörte der Spezialeinheit an, ist seit dem Hubschrauberabsturz aber taub und dürfte auch eine mittelschwere Gehirnerschütterung erlitten haben. Jedenfalls kommuniziert man mit Notizzetteln mit dem ständig leicht grinsenden Kollegen. So kann man Kelvin etwa zum Sammeln von Stöcken und Baumstämmen abkommandieren oder ihn zum Fischen schicken. Der KI-Begleiter ist eine willkommene Ergänzung, nimmt er uns doch die langweiligsten Tätigkeiten einfach ab.

Endnight Games spendieren uns aber noch einen zweiten NPC: Virginia Puffton ist auf der Insel mutiert, ihr ist ein dritter Arm sowie ein drittes Bein gewachsen. Anfangs beobachtet sie den Spielcharakter noch aus dem Wald heraus und huscht im Augenwinkel vorbei. Diese anfangs leicht unheimliche Begegnung stellt sich aber bald als Segen heraus. Bleibt man Virginia gegenüber friedlich, fasst sie Vertrauen und zieht schließlich in der Basis des Spielenden ein. Außerdem kann man die junge Frau im Badeanzug mit Waffen ausstatten, was sie zur idealen Verteidigerin macht. Denn Virginia braucht, anders als die Spielfigur, keine Munition, um Pistole und Schrotflinte abzufeuern.

Mutanten und Kannibalen: Größer, aber nicht besser

Als Spielerin oder Spieler verlässt man sich ohnehin besser auf Keule, Machete, Bogen und notfalls die eine oder andere Handgranate, um sich der Kannibalenhorden zu erwehren. Die sind nun deutlich gefährlicher. Konnte man im ersten Teil mit ein wenig Geschick noch Kannibalen reihenweise töten, indem man seitlich um sie herumtänzelte, sind die Widersacher jetzt deutlich zäher und stärker.

Wer sich im Nahkampf mit einem Bösewicht mit goldener Maske anlegt, hat nahezu keine Chance, lebend aus der Begegnung zu kommen. Hier wirkt es fast so, als hätten Endnight Games die Gegner einfach größer und stärker gemacht, um herausfordernd zu bleiben, was leider oft in Frustration mündet. Das Versprechen, dass die KI jetzt deutlich komplexer und unberechenbar agiert, lässt sich nicht bestätigen.

Ein Fest für Gore-Fans

Auf der Survival-Seite gibt sich "Sons of the Forest" versöhnlicher: Zwar ist neben Hunger und Durst nun auch Müdigkeit der Spielfigur dazugekommen, aber wirklich schwierig wird das Überleben auf der Insel nie. Nahrung und Wasser gibt es im Überfluss, und eine improvisierte Schlafstätte ist selbst fernab der eigenen Basis mit zwei Mausklicks errichtet. Notfalls kann man natürlich wieder selbst zum Kannibalen werden und die Körperteile seiner Widersacher verspeisen.

Zwar gibt es erstmals Jahreszeiten, wirklich gefährlich ist die kalte Jahreszeit für die Spielfigur aber, von einem kleinen Malus für die Stamina-Leiste abgesehen, nicht. Durch den enorm vergrößerten Rucksack könnten besonders geschickte Zockerinnen und Zocker wahrscheinlich sogar gänzlich auf eine Basis verzichten – weil man eigentlich immer alles Überlebensnotwendige dabeihat.

Zur Not kann man sich mit den Körperteilen seiner Widersacher zur Wehr setzen. "Sons of the Forest" spart nicht an Gewaltdarstellungen.
Foto: Endnight Games

Allzu sensible Gemüter werden mit "Sons of the Forest" keine Freude haben, denn es geht außerordentlich brutal zu: Da werden Gegner mit ihren eigenen Gliedmaßen verprügelt, Köpfe auf Pfähle gespießt, Mutanten gehäutet und ihre Haut als Kleidung getragen. Der Grad an Blut und Beuschel ist sicher nicht für alle Gamer geeignet, dürfte Gore- und Exploitation-Fans aber gefallen.

Die KI, die Baustelle

Damit wären wir auch bei der größten Baustelle von "Sons of the Forest" angelangt: der KI. Helfer Kelvin erweist sich im Spielverlauf als nervtötend, weil er entweder durch den Fußboden purzelt oder mit seinem Baumstamm an der Tür hängen bleibt. An einer anderen Stelle warf uns Kelvin die Baumstämme zu, was Schaden verursacht und wodurch wir zu Boden gingen. Frustrierend wird es, wenn Kelvin ausgerechnet jenen Baum fällt, auf dem bereits unser halbfertiges Baumhaus steht. Hier müssen die Entwickelnden noch dringend nachbessern.

Allzu smart agieren auch die Kannibalen nicht – sie jagen noch immer wie im ersten Teil: Späher werden vorgeschickt und kündigen oft einen größeren Angriff an. Hier kann man sich die nicht besonders clevere KI zunutze machen, denn die Kannibalen bleiben gerne an Hausecken und Vorsprüngen hängen. Schwimmen wir nur wenige Meter ins Meer, bleiben die Gegner ratlos stehen und lassen sich einer nach dem anderen mit Pfeil und Bogen ausschalten.

Itemjagd in der Gruselhöhle

Sterben kann die Spielfigur übrigens nicht: Stattdessen wird sie von Kannibalen gefangen genommen und an einen Pfahl gebunden, von dem sie sich nach einigen Augenblicken aber wieder befreien kann. Von da an läuft man einfach zurück in die heimatliche Basis. Das Problem dabei: Das passiert gerne mehrmals hintereinander, vor allem wenn die Heilkräuter und die Medizin ausgehen, wird man im Minutentakt von Kannibalen k. o. geschlagen und verschleppt.

Natürlich gibt es auch in "Sons of the Forest" wieder unterirdische Höhlen. In diesen findet man wieder wichtige Gegenstände wie die Tauchausrüstung, ein Gerät zum Abseilen, einen 3D-Drucker oder das wichtigste Item im Spiel: die Schaufel. Diese ermöglicht es nämlich, verschüttete Bunker freizulegen und in der Story voranzukommen. Im ersten Teil war das weitverzweigte Höhlensystem noch das heimliche Highlight des Spiels, dieses fällt in der Masse jetzt aber deutlich kleiner aus und bietet leider oft nicht mehr als einige Kisten mit Loot.

Frust im Koop

Das alles macht schon allein viel Spaß, sollte im Koop-Modus aber natürlich noch viel lustiger sein, schließlich ist das gemeinsame Überleben und Bauen ein Kernfeature von Survival-Games. Leider versagt hier "Sons of the Forest" noch. Während sich der Einzelspielermodus erstaunlich bugfrei präsentierte, kam es im Koop immer wieder zu unerklärlichen Phänomenen: Einmal wurden die Tester von unverwundbaren Kannibalen angegriffen, ein anderes Mal verweigerten die KI-Begleiter jedes Kommando, und zu guter Letzt verschwanden frisch gebaute Lagerfeuer immer wieder im Erdboden.

In den Höhlen warten schreckliche Mutanten. Im späteren Spielverlauf kommen diese Monster auch an die Oberfläche.
Foto: Endnight Games

Diese Bugs waren zwar nach einem Neustart immer rasch behoben, drückten aber dennoch auf das Spielerlebnis. Richtig frustrierend wurde es, als alle Spieler bis auf den Host ihre Waffen verloren hatten – sie waren einfach verschwunden. Eine der verschwundenen Pistolen wurde später kurioserweise in einem nahen See gefunden.

Fazit: "Sons of the Forest" ist noch nicht ganz durch

"Sons of the Forest" sieht gut aus, vermittelt perfekte Gruselstimmung und sorgt mit frischen Ideen wie den KI-Begleitern und einem endlich funktionierenden Modus für freies Bauen für Abwechslung. Die Story entfaltet sich durch in der Spielwelt verstreute Hinweise und verstärkt die subtile Bedrohung, die selbst über einfachen Tätigkeiten wie dem Pilzesammeln liegt. Ständig hat man das Gefühl, dass unter der Oberfläche mehr wartet, als es den Anschein hat.

Doch leider hat "Sons of the Forest" auch gewaltige Probleme: Das Crafting ist aktuell noch überschaubar und die Zahl der Rezepte eng begrenzt. Die Blaupausen für die Bauten könnten ebenfalls noch deutlich mehr Liebe vertragen, wobei die Spielerschaft wahrscheinlich eh nur auf das Hausboot aus dem ersten Teil wartet. Die Höhlen reichen nicht einmal annähernd an die Qualität des Vorgängers heran.

Noch schwerer wiegen die Bugs im Koop-Modus: Verschwindende Gegenstände, unverwundbare Gegner und versinkende Bauwerke sind leider ein Fixgarant für Frust. Warum der Mulitplayermodus keine dedizierten Server unterstützt, ist eine Frage, die man, wenn überhaupt, nur im Endnight-Hauptquartier in Kanada beantworten kann.

"Sons of the Forest" ist aktuell noch wie ein gegrilltes Kannibalenbein im Spiel: Natürlich kann man das essen, der Genuss bleibt aber auf der Strecke. Daher gibt es eine Kaufempfehlung erst, wenn Endnight Games das Versprechen wahrmachen und das Spiel laufend weiterentwickeln. In diesem Fall hat das Game eine reelle Chance, dem Hype gerecht zu werden. Sollte es aber tatsächlich noch Gamerinnen und Gamer geben, die "Sons of the Forest" noch nicht gekauft haben, empfiehlt es sich, mit der Anschaffung noch ein halbes Jahr zu warten und stattdessen den ersten Teil zu spielen. (Peter Zellinger, 14.3.2023)