Die russischen Geheimdiensten täuschten sich stark, was die Stimmung in der Ukraine betrifft. Jubel gibt es dort fast nur von eingeflogenen Gruppen, etwa Schülerinnen und Schülern wie hier am Bild auf der Krim

Foto: AP Photo

Der größte Unterschied zu westlichen Geheimdiensten? "Langfristigkeit und Beharrlichkeit zählen, aber auch Rücksichtslosigkeit und keine Scheu vor Gewalt", sagt der Geheimdienstexperte Thomas Riegler dem STANDARD. Wen er meint: die drei großen russischen Geheim- und Nachrichtendienste, die regelmäßig mit ihren Aktionen für Schlagzeilen sorgen, also FSB, GRU (GU) und SWR.

Sie stehen durchaus in Konkurrenz zueinander, und ihre Aufgabenverteilung ist zwar auf dem Papier klar, in der Realität verschwimmen die Grenzen zwischen Inlands- und Auslandsgeheimdienst in Russland aber zusehends. Ein kurzer Überblick:

FSB – der Inlandsdienst

Die Vulkan-Files sind Dokumente aus dem Inneren der russischen Cyberkriegsführung und Überwachung. Mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten aus acht Ländern haben die Daten monatelang ausgewertet, darunter auch DER STANDARD.
Montage: Lina Moreno / DER SPIEGEL, Fotos: Vulkan Files, Pallava Bagla / Corbis / Getty Images

Ersten: der Inlandsgeheimdienst FSB, der sich als direkter Nachfolger des berüchtigten KGB um Verfassungsschutzaufgaben im Landesinneren kümmert und dessen Direktor Putin vom 25. Juli 1998 bis August 1999 war. Seit Putin kurz darauf ins Ministerpräsidenten- und später ins Präsidentenamt wechselte, zog er zahlreiche FSB- und Ex-KGB-Leute mit oder brachte sie an einflussreiche Stellen im Staat. Neben Spionageabwehr und Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität werden mit FSB-Mitteln vor allem regimekritische Personen beobachtet – ebenso wie Ausländer, die sich im Land aufhalten. Der Dienst soll seit geraumer Zeit auch über erhebliche Kapazitäten im Cyberbereich verfügen.

Es wird vermutet, dass der Hackerangriff auf das österreichische Außenministerium 2020 auf den FSB zurückzuführen ist – das zeigt, dass sich der FSB eben nicht nur ums russische Inland kümmert. Er hat eine Sparte für "operative Informationen und internationale Beziehungen". Ebenjene fünfte Abteilung soll Putin im Vorfeld des Ukrainekriegs schlecht über die zu erwartende Reaktion der ukrainischen Bürger informiert haben. Mindestens 150 Mitarbeiter wurden daraufhin entlassen oder inhaftiert. Auch Sergej Beseda, der Chef der Abteilung, wurde zwischenzeitlich eingesperrt, im berüchtigten Lefortowo-Gefängnis – einer Haftanstalt für Spione und Regimekritiker und einst Schauplatz für von Josef Stalin angeordnete Massenhinrichtungen. Die fünfte Abteilung hat vor allem in den Ex-Sowjetstaaten noch eine ausgedehnte Präsenz.

SWR – "zivile" Aufklärung

Zweitens: der Auslandsgeheimdienst SWR, dessen Chef Sergej Naryschkin wenige Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine von Putin bei einer öffentlichen Sitzung des Sicherheitsrats zur Anerkennung der "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk öffentlich vorgeführt wurde. Naryschkin zitterte, stotterte und versprach sich damals mehrmals, als Putin ihn fragte, ob er die Anerkennung der Unabhängigkeit akzeptiere. Dass die mehrmalige Zurechtweisung im streng kontrollierten russischen Staatsfernsehen zeitversetzt als Aufzeichnung ausgestrahlt und nicht herausgeschnitten wurde, kann als Machtdemonstration Putins verstanden werden. Als zentrale Stelle für zivile Aufklärung sammelt der SWR vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie Informationen.

Der SWR verfügt auch über eine "Fernmeldeaufklärung", ist also für Abhörmaßnahmen zuständig. Und auch für Gegenspionage.

GRU – der Militärgeheimdienst

Drittens: der Militärgeheimdienst GU (besser bekannt unter seinem früheren Namen GRU), der in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Mordanschlägen, Vergiftungen bzw. Vergiftungsversuchen, Wahlbeeinflussungen, Putschversuchen oder der Bezahlung von auf US- und Nato-Soldaten angesetzten Kopfgeldern an die Taliban auf sich aufmerksam machte. Neben verdeckten Operationen hinter feindlichen Linien, Terrorismusbekämpfung und der Beschaffung militärisch relevanter Informationen dient er auch der Spionageabwehr. Seit gut 15 Jahren soll auch Wirtschaftsspionage in den Aufgabenbereich des GRU fallen. "Die Hackerkomponente wurde beim GRU ausgebaut, wie zahlreiche Operationen zeigen. Außerdem arbeiten sogenannte patriotische Hackergruppen inoffiziell für die Geheimdienste", sagt Riegler. So ist etwa die berüchtigte Hackergruppe Sandworm dem GRU untergeordnet.

Vulkan, Diener dreier Herren

Sie alle – FSB, SWR und GRU – sind Kunden von NTC Vulkan, der Firma im Zentrum der Vulkan-Files. Auch deshalb sind die Enthüllungen so relevant. Sie zeigen auch, wie sich die drei Nachrichtendienste im Bereich der Cyberkriegsführung und Onlineüberwachung matchen.

Zu erwähnen sei noch der Föderale Dienst für Bewachung (FSO): Er hat die Hauptaufgabe, den Präsidenten der Russischen Föderation sowie die Regierung des Landes zu beschützen. Abseits davon erfüllt der Dienst auch Abwehr- und Aufklärungsaufgaben. Es gibt im FSO aber auch eine Abteilung, die sich der Erforschung der Stimmungslage innerhalb der russischen Bevölkerung verschrieben hat.

Sammeln, sammeln, sammeln

Die Russen würden prinzipiell einmal alles sammeln, und das systematisch, sagt Riegler – man wisse schließlich nie, wann man gewisse Informationen noch brauchen kann. Außerdem leistet sich der Kreml nach wie vor einen riesigen Personalpool: Da sind einerseits die dutzenden "Illegalen" in mehreren europäischen Staaten, die teils schon so lange ohne jeglichen augenscheinlichen Kontakt zu Russland leben, dass niemand mehr Verdacht schöpft. Viele der sogenannten Schläfer platziert Russland frühzeitig in der Hoffnung, dass sie irgendwann in bestimmte Positionen kommen, die dem Kreml später nützlich sind. Wie das, mit etwas Fantasie, abläuft, kann man in der Fernsehserie "The Americans" nachsehen.

Einen solchen Fall gab es übrigens auch schon mit Österreich-Bezug: Die Familie "Anschlag" gab sich als Nachfahren von Österreichern aus, die nach Südamerika ausgewandert waren. Das sollte ihren merkwürdigen Akzent erklären. Geschnappt wurden sie angeblich auch mit Hilfe des BVT, und zwar in Deutschland.

Überschätzung und Fehler

Und dann gibt es andererseits die regelrechte Armada an Spionen und "Soldaten" hinter den Bildschirmen, die im Dienste Moskaus stehen. Informationsbeschaffung ist in Wladimir Putins Land, im Einflussbereich des Ex-KGB-Mannes, immer noch eine essenzielle Aufgabe, für die man viel staatliche Ressourcen auszugeben bereit ist.

Sowohl die passiven Aufgaben der Geheimdienste – das Sammeln von Daten, das Aufschreiben von Beobachtungen, das Beschatten von Personen – als auch die aktiven – Cyberattacken oder Mordanschläge – hätten zuletzt aber offensichtliche Schwächen im russischen System aufgezeigt, sagt Riegler. So gab es nicht nur die offensichtliche Fehleinschätzung der für internationale Aufgaben zuständigen Abteilung im Inlandsgeheimdienst FSB, wonach man beim Überfall Russlands auf die Ukraine im vergangenen Februar auf wenig Gegenwehr treffen und vielerorts gar als Befreier empfangen werden würde. "Viele haben auch mit einer deutlich hybrideren Kriegsführung des Kremls gerechnet, einem Fokus auf Täuschung, Sabotage und verdeckte Operationen", sagt Riegler.

Tatsächlich scheint nach mehr als einem Jahr Krieg klar, dass der Kreml eher auf einen konventionellen Abnutzungskrieg setzt, der – abseits der Drohnen und präzisen Lenkwaffen – manchmal mehr an die Stellungskämpfe aus dem Ersten Weltkrieg als an moderne Kriege erinnert.

Für den Geheimdienstexperten liegt das zum Teil an einer Überschätzung der Kompetenzen der russischen Cybersoldaten, aber auch an westlicher Cyberunterstützung für die Ukraine. Die hatte auch schon jahrelange Erfahrung mit Angriffen aus Russland. Was die Aufklärung auf dem Gefechtsfeld beider Seiten oder die nachrichtendienstliche Unterstützung der Ukraine durch den Westen betrifft, ist der Konflikt in der Ukraine aber freilich alles andere als ein Krieg aus dem vergangenen Jahrhundert.

Bewusstes Misstrauen zwischen den Diensten

Konkrete Aufgabengebiete, Budget und die Anzahl an Personal sind bei den großen Diensten ein Staatsgeheimnis. Mehr als alle anderen großen westlichen Dienste verschreiben sie sich einer strikten Geheimhaltung, auch was die historische Aufarbeitung betrifft, erklärt Riegler. Einer kurzen Phase der Öffnung nach dem Zerfall der Sowjetunion sei eine noch strengere Abkapselung nach außen gefolgt. Vieles von dem, was man wisse, kratze nur an der Oberfläche, sagt der Experte.

Eine historische Kontinuität sieht Riegler in der Paranoia russischer Geheimdienste vor dem Westen, die noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammt. "Geheimdienste in totalitären und autoritären Systemen neigen dazu, ihre paranoide Weltsicht auf alles andere zu übertragen", sagt Riegler. Zu dieser Generation zähle auch Putin, der als Kind viele vom KGB autorisierte Spionagefilme konsumiert haben dürfte.

Über die genauen Personalzahlen weiß man wenig. Dass es tendenziell 150.000 Mitarbeiter sind, allerdings schon. Auch dass die Dienste untereinander in großer Konkurrenz stehen, da sie um die Gunst Putins buhlen, ist kein Geheimnis. Laut Riegler ist das ein wiederkehrendes Element in autoritären und totalitären Systemen. Es sei ihnen "systemimmanent".

Die Ausweisungen russischer Diplomaten durch EU-Staaten hätten die russischen Spionage- und Geheimdienstaktivitäten in den Ländern jedenfalls deutlich geschwächt, glaubt Riegler. Von so manchem Kulturattaché in der Botschaft bis zu Mitarbeitern im Aeroflot-Büro könne man oft von getarnten Agenten ausgehen – zuletzt entdeckte man einen Doppelagenten sogar im deutschen Bundesnachrichtendienst. (Fabian Sommavillla, Fabian Schmid, 30.3.2023)