Mit seinen Siegen bei zwei Präsidentenwahlen gilt Emmanuel Macron – nach Charles de Gaulle – als der erfolgreichste politische "Quereinsteiger" in der französischen Geschichte. Eine charismatische Führungspersönlichkeit in einer parlamentarischen Demokratie kann aber nur so lange die Widersprüche dieser Position aufheben, wie sie sich durch Wunder und Erfolge "bewährt".

Die massive Streikwelle gegen die Pensionsreform und das wache Misstrauen Polens und der baltischen Staaten, wohl auch insgeheim der Ukraine, gegenüber Macrons Bemühungen um ein besonderes Verhältnis zu Russland lassen den wachsenden Druck von innen und von außen auf den hyperaktiven, aber unberechenbaren und sprunghaften Präsidenten erkennen.

Seine Pensionsreform treibt die Menschen auf die Straßen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
Foto: AFP/Julien de Rosa

Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß?

Im Gegensatz zu Angela Merkel während ihrer 16 Jahre der Kanzlerschaft mit prägender Rolle in der Europäischen Union hat Präsident Macron von den drei "Qualitäten", die laut dem großen Soziologen Max Weber (1864–1920) "den Politiker ausmachen: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß", die letzten zwei in der Innen- und Außenpolitik, so auch in der Ukraine-Krise, wiederholt vermissen lassen. Zwei Wochen nach seinem fünfstündigen Gespräch mit Präsident Wladimir Putin in Moskau und dessen Versprechen, "Zurückhaltung" zu üben, rollten die russischen Panzer über die ukrainische Grenze. Macrons vielpubliziertes Vermittlungsprojekt entpuppte sich schnell als ein Luftschloss.

Trotz der einzigartigen Position Frankreichs in der EU als (nach dem Brexit) die einzige Nuklearmacht mit ständiger Mitgliedschaft im Uno-Sicherheitsrat hat Macron 2022 auch die Chance auf die Führungsrolle nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verspielt. Das betonen unter anderen solche französischen Spitzenexperten wie François Heisbourg, Ex-Chef des Internationalen Instituts für Strategische Studien, und der angesehene Diplomat Michel Duclos. Die französische Unterstützung für die Ukraine klingt rhetorisch überzeugend, aber militärisch und finanziell bleibt sie (in Prozenten des Sozialprodukts) weit unter dem britischen, polnischen und sogar dem deutschen Beitrag.

Ambivalenz, Ungeduld, Unberechenbarkeit

Vor allem konnte Macron die durch sein Economist-Interview im November 2019 zerstörte Glaubwürdigkeit nicht wiedergewinnen. Damals hatte er der Nato den "Hirntod" bescheinigt, die EU am Rande des Abgrunds gesehen und zugleich für einen "neuen, strategischen Dialog" mit Moskau plädiert.

Er und Viktor Orbán verstünden die Russland-Frage ähnlich, hieß es, und vielleicht gelinge es Orbán, die Visegrad-Gruppe und insbesondere Polen von ihrer gemeinsamen Sichtweise zu überzeugen. Bei einem Arbeitsessen Montagabend in Paris dürfte sich Macron mit Orbán, dem besten europäischen Freund des russischen Diktators, allerdings eher über die Stimmung im Kreml als in Warschau beraten. Polen gilt nämlich jetzt als ein von Russland direkt gefährdeter Frontstaat, unterstützt auch von Tschechien und der Slowakei, in dieser Kernfrage aber nicht von Orbáns Ungarn.

So schwächt Macron mit seiner Ambivalenz, Ungeduld und Unberechenbarkeit im Streben nach Führungsanspruch die Geschlossenheit der EU und stärkt die Position Russlands. (Paul Lendvai, 13.3.2023)