Im Gastblog berichtet Anna Reuter über die Forschung an einer Ausgrabungsstätte, deren Ursprünge weit in unsere Vergangenheit reichen.

Die jungsteinzeitliche Siedlung von Vráble liegt im Žitava-Tal im Südwesten der heutigen Slowakei, seit 2012 steht sie im Fokus internationaler Forschungskooperationen des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der CAU Kiel und der Akademie der Wissenschaften Nitra (Slowakei). Doch ihre Entdeckung war zufällig, was bemerkenswert ist, denn das Žitava-Tal ist eine Region, in der bereits seit Jahrzehnten systematische Surveys und Sammlungen von Oberflächenfunden durchgeführt wurden, um archäologische Fundstellen zu identifizieren.

Untersuchungen im Nachhinein verrieten, warum Vráble unentdeckt blieb. Die Erdschicht, die die archäologische Fundstelle bedeckt, ist an dieser Stelle dicker als über benachbarten Fundstellen. Erst ab einer Tiefe von rund 50 Zentimeter traten größere Mengen an jungsteinzeitlichen Funden auf – damit liegen sie tiefer, als die meisten Pflüge gelangen. Deshalb wurden nur wenige Funde an die Oberfläche befördert, und die archäologische Fundstelle blieb weitgehend ungestört.

Rekonstruktion der drei Siedlungen von Vráble.
Foto: Karin Winter, Institut für Ur- und Frühgeschichte/ Uni Kiel

Wahrscheinlich wären die drei Siedlungen von Vráble noch länger unentdeckt geblieben, hätten Untersuchungen des benachbarten bronzezeitlichen Fundplatzes Fidvár nicht stattgefunden. Denn zu Übungszwecken und um die weitere Umgebung der bronzezeitlichen Siedlung zu erkunden, wurden auf dem benachbarten Acker geophysikalische Untersuchungen durchgeführt. Diese förderten auf einer Fläche von etwa 50 Hektar Erstaunliches zutage: drei nebeneinanderliegende und dicht bebaute Siedlungsflächen mit jeweils einer Fläche von 15 Hektar. Damit gehört das jungsteinzeitliche Vráble zu den größten linearbandkeramischen Siedlungszusammenschlüssen im europäischen Kontext und ist vermutlich die einzige Siedlung dieser Größenklasse mit einem vollständigen Siedlungsplan.

Interdisziplinäres Forschungsprojekt

Über geophysikalische Untersuchungen und archäologische Ausgrabungen war es den Archäologinnen und Archäologen möglich, den Siedlungsplan von Vráble vollständig zu rekonstruieren. In Vráble wurden drei Siedlungen aus der späteren sogenannten Linearbandkeramischen Kultur (5250 bis 4950 vor unserer Zeitrechnung) in direkter Nachbarschaft zueinander entdeckt. Diese drei Siedlungen waren um 5110 vor unserer Zeitrechnung mit bis zu 69 gleichzeitigen Häusern und geschätzten 590 Einwohnerinnen und Einwohnern ausgesprochen groß für diese Epoche.

Eine dieser Siedlungen war zusätzlich von einem Graben umgeben, der den Zugang erschwerte und durch eine Palisade einen Sichtschutz bot. Damit bietet die Siedlung eine hervorragende Grundlage zur Erforschung menschlichen Verhaltens im Frühneolithikum. Das wohl auffälligste Merkmal des Siedlungsplans von Vráble ist die Errichtung von insgesamt 313 Häusern in einem Zeitraum von rund 300 Jahren. Doch nicht nur die Anzahl der Häuser ist bemerkenswert, auch deren Ausrichtung birgt Erstaunliches.

Immer gegen den Uhrzeigersinn

Menschliches Verhalten wird von vielen Dingen beeinflusst, die uns meist unbewusst bleiben. Dazu gehört ein Phänomen, das in der Wahrnehmungspsychologie unter dem Begriff "Pseudoneglect" bekannt ist. Damit wird die Beobachtung verstanden, dass gesunde Menschen ihr linkes Gesichtsfeld gegenüber dem rechten bevorzugen und die Mitte einer horizontalen Linie häufiger links als rechts von ihrem Zentrum teilen.

In der Siedlungsphase um 5270 vor unserer Zeit haben die Gebäude eine Neigung von 28 Grad.
Foto: https://allesbleibtanders.com/modules/vrable/
In der späteren Siedlungsphase um 4990 vor unserer Zeit liegt die Neigung der Gebäude bei acht Grad. Die Abweichung in der Orientierung der Häuser wird besonders deutlich in der Betrachtung früher und später Siedlungsphasen.
Foto: https://allesbleibtanders.com/modules/vrable/

Eine Studie, die die Ausrichtung frühneolithischer Häuser in Mittel- und Osteuropa untersuchte, konnte auch für Vráble belegen, dass die Orientierung neu gebauter Häuser um wenige Grad von derjenigen bereits bestehender Bauwerke abweicht – und dass diese Abweichung regelhaft gegen den Uhrzeigersinn erfolgte. Frühneolithische Häuser bestanden etwa eine Generation, dass heißt etwa 30 bis 40 Jahre. In regelmäßigen Abständen wurden neue Häuser neben bereits bestehenden errichtet. Durch Altersbestimmungen mithilfe der Radiokarbonmethode lässt sich zeigen, dass die Neuerrichtung mit einer kaum wahrnehmbaren Drehung der Hausachse gegen den Uhrzeigersinn verbunden war. Die Forschenden sehen Pseudoneglect als wahrscheinlichste Ursache dafür.

Die Abweichungen der Orientierung der Hausachsen in linearbandkeramischen Siedlungen wurden in der Vergangenheit bereits intensiv diskutiert, als beeinflussende Faktoren wurden unter anderem Klimaeinwirkungen, Exposition gegenüber der Sonne und Heimat der Vorfahren in Betracht gezogen. Die Verschiebungen um nur etwa drei bis fünf Grad sind jedoch derart gering, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass sich die Bewohner und Bewohnerinnen dieser tatsächlich bewusst waren. Die Forschenden sehen daher Pseudoneglect als wahrscheinlichste Ursache dafür.

In Vráble war über den gesamten Besiedlungszeitraum von rund 300 Jahren eine Drehung von 32 Grad auf 4 Grad zu beobachten, das Phänomen war darüber hinaus an weiteren linearbandkeramischen Siedlungen zu beobachten. In der Mehrheit der linearbandkeramischen Siedlungen ist die Ausgrabung aller Häuser aus denkmalpflegerischen oder finanziellen Gründen weder möglich noch wünschenswert. Die Konzentration auf Orientierungsunterschiede, basierend auf intensiven geophysikalischen Untersuchungen und in Zusammenhang mit der gezielten Radiokarbondatierung von Befunden, bietet die Möglichkeit, dennoch substanzielle Aussagen über die Entwicklung einzelner Siedlungen oder gar Mikroregionen zu machen.

Doch nicht alle Handlungen der Menschen lassen sich über unbewusste Verhaltensmuster erklären.

Ungewöhnliche Bestattungspraktiken

Für die heutige Gesellschaft wirken einige der Bestattungspraktiken der Menschen vor 7.000 Jahren ziemlich befremdlich. Sie bestatteten ihre Verstorbenen nicht nur auf Friedhöfen, sondern gingen auf verschiedene Arten mit ihnen um, legten sie in Gräben und in der Nähe der Häuser nieder. Zahlreiche menschliche Skelette fanden sich im Siedlungsgraben einer der drei Siedlungsflächen. Und erst während der Ausgrabung im Sommer 2022 wurde ein Massengrab mit 38 Individuen entdeckt, davon 37 ohne Kopf – der STANDARD hat berichtet. Neben den Köpfen wurden vielen Individuen auch die Hände und Füße abgetrennt. Diese wiederkehrenden Muster zeigen, dass die Deponierungen der Körper in den Gräben und die Entnahme von Körperteilen als bewusste Akte zu verstehen sind, die definierten Regeln folgten.

Das im Sommer 2022 entdeckte Massengrab mit 38 Individuen, davon 37 ohne Kopf.
Foto: Prof. Dr. Martin Furholt, Ur- und Frühgeschichte/Uni Kiel

Eine Erklärung, warum die Verstorbenen auf diese Weise bestattet wurden, könnte in kulturellen Besonderheiten im Umgang mit Verstorbenen liegen. In vielen prähistorischen, aber auch noch in heutigen Gesellschaften gab und gibt es verschiedene Ahnenkulte, in denen die Verstorbenen – oder Teile von ihnen – aufbewahrt wurden und werden. Verstorbene Angehörige konnten so noch über viele Jahre hinweg physisch den Alltag oder einzelne Zeremonien begleiten.

Schematische Zeichnung einer traditionellen Bestattung in Hockerstellung mit Beigaben.
Foto: https://allesbleibtanders.com/modules/vrable/

Keine Gesellschaft lebt ewig – warum?

Seit dem 15. Dezember 2022 zeigt die digitale Ausstellung des SFB 1266, "Alles bleibt anders – Transformationsprozesse in Raum und Zeit", dass soziale Ungleichheit, Klimawandel, Krankheiten und Epidemien die Menschen bereits in der Vergangenheit vor die Wahl stellten, sich zu verändern, Neues zu wagen oder unterzugehen. Dabei gibt es auch das Modul "Kopflos – Leben und Sterben in Vráble" zu entdecken. (Anna Reuter, 6.4.2023)

Foto: https://allesbleibtanders.com/modules/vrable/