Kann linke Politik eine progressive Agenda verfolgen und damit erfolgreich sein? Wie nahe sind sich "neue" und "alte" Linke? Diesen Fragen widmen sich die Politikwissenschafterin Silja Häusermann von der Universität Zürich und der Politikwissenschafter Tarik Abou-Chadi von der Universität Oxford in ihrem Gastkommentar.

Bringt linke Politik der Sozialdemokratie neue Erfolge? Elly Schlein, die neue Chefin des PD in Italien, setzt jedenfalls darauf. Ein Vorbild?
Foto: Imago / Vincenzo Nuzzolese

Nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa haben sich Ende Februar zahllose Zeitungsleser:innen die Augen gerieben, als mit Elly Schlein eine junge, radikal progressive Frau an die Spitze des italienischen Partito Democratico gewählt wurde. Schlein vertritt und verkörpert ein Verständnis von links-progressiver Politik, vor dem viele sozialdemokratische Schwesterparteien zurückschrecken: Neben einer dezidiert linken Politik für Umverteilung, soziale Sicherheit, einen Mindestlohn und eine stärkere Besteuerung Vermögender fordert sie auch mehr Solidarität mit Geflüchteten, mit gesellschaftlichen Minderheiten, mehr Diversität und Inklusion und einen ökologischen Wandel der Wirtschaft. Kann eine solch progressive Agenda in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen glücken, oder führt sie unweigerlich ins "linke Dilemma"?

Drohende Spaltung?

In der Tat wird in Diskussionen zur politischen Ausrichtung linker Parteien mit großer Häufigkeit und ebenso heftiger Vehemenz ein solches Dilemma zwischen "postmateriell neulinken" und "materiell altlinken" Positionen beschworen. Das Dilemma unterstellt, dass "neulinke" Themen die traditionelle Stammwählerschaft in eher tieferen Bildungs- und Einkommensschichten vergrämen. Spiegelbildlich könnten progressive Wähler:innen aus höheren Bildungs- und Einkommensschichten von einem dezidierten Fokus auf soziale Sicherheit, Umverteilung und progressive Besteuerung abgestoßen werden.

Die Vermutung einer Spaltung der linken Wählerschaft in eine materielle und eine postmaterielle Ausrichtung ist jedoch stark übertrieben. Die politikwissenschaftliche Forschung zur Sozialdemokratie in Westeuropa zeigt, dass das vermeintliche Dilemma auf zwei Annahmen basiert, die sich in der Realität nicht bestätigen.

Wählerschaft "zu rechts"?

In Bezug auf materielle Wirtschafts- und Sozialpolitik wird oftmals vermutet, dass Wähler:innen der Mittelschicht in ihren Vorstellungen, Bedürfnissen und Interessen "zu rechts" seien, um sich von einer sehr progressiven Umverteilungspolitik angesprochen zu fühlen. In der Tat ist es so, dass linke Parteien zunehmend in der gebildeten städtischen Mittelschicht gewinnen (müssen) und dass diese das zahlenmäßig stärkste, wachsende und loyalste Wählersegment der Linken geworden ist. Diese linken Wähler:innen der Mittelschicht sind in der Regel zwar weder auf Mindestlohn noch auf Kündigungsschutz angewiesen, und sie würden selber nicht selten eher mehr bezahlen infolge stärker progressiver Steuern. Trotzdem unterstützen genau sie eine dezidierte Umverteilungspolitik.

Diese neue Mittelschicht – Menschen mit guter Ausbildung, die vornehmlich in Sektoren wie Beratung, Projektmanagement, Gesundheit, Bildung oder Kommunikation arbeiten – unterscheidet sich in ihren Einstellungen stark von der "alten Mittelschicht", die vor allem in liberalen Berufen und im Unternehmertum verortet war. In anderen Worten: Obwohl diese Wähler:innen höhere Bildungsabschlüsse und gute Einkommen haben und obwohl ihnen postmaterielle Forderungen ausgesprochen wichtig sind, unterstützen sie eine wirtschaftlich und sozialpolitisch progressive Agenda der Linken.

"Das Narrativ des 'linken Dilemmas' blendet aus, dass die 'Arbeiterschicht' heute sehr heterogen ist."

Eine zweite Annahme, auf der das Narrativ eines innerlinken Dilemmas zwischen materiellen und postmateriellen Forderungen beruht, bezieht sich auf Wähler:innen mit geringerer Bildung und aus der Arbeiterschicht. Oft wird vermutet, dass diese Wähler:innen progressive Politik bei Fragen der Migration und Integration, LGBTQ-Rechten, oder der Gleichstellungspolitik ablehnen oder sich von solchen Forderungen abgestoßen fühlen könnten.

Die Forschung zeigt allerdings, dass Arbeiter:innen im linken Wählerpotenzial zwar im Durchschnitt weniger Interesse an diesen Themen zeigen, die inhaltlichen Forderungen nach Inklusion und Gleichstellung aber durchaus teilen. Zudem blendet das Narrativ des "linken Dilemmas" aus, dass die "Arbeiterschicht" heute sehr heterogen ist, und zum größten Teil aus Frauen, jungen Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund besteht, die von Inklusionspolitik durchaus selber betroffen sind.

Breitere Unterstützung

Eine dezidiert progressive Agenda – sowohl in wirtschaftlichen als auch in gesellschaftlichen Fragen – findet in den transformierten Gesellschaften Westeuropas viel breitere Unterstützung, als es Zerrbilder von "konservativen Arbeitern" und "abgehobenen Mittelschichtslinken" suggerieren.

Ob das auch für Italien gilt, wird sich zeigen müssen. Einerseits ist die "neue, postindustrielle Mittelschicht" in Italien deutlich kleiner als in den Wissens- und Dienstleistungsökonomien nördlich der Alpen. Andererseits haben gerade im prekarisierten Italien sehr viele jüngere, gut gebildete Bürger:innen ein direktes Interesse an einer inklusiven Politik sowohl in sozialpolitischen als auch in gesellschaftlichen Fragen. Elly Schlein wird ausloten, ob ihre konsequent und unverhohlen progressive Agenda in Italien der Linken neuen Schwung verleihen kann. (Silja Häusermann, Tarik Abou-Chadi, 14.3.2023)