Nina Khrushcheva: "Es ist Zeit für Russland, sich gegen seine Geschichte zu stellen."

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Stalin ist in Russland nach wie vor allgegenwärtig.

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Die US-amerikanische Politologin Nina Khrushcheva hat eine besondere Beziehung zur russischen Politik: Sie ist die Urenkelin des einstigen sowjetischen KP-Parteichefs Nikita Chruschtschow. Im Ukrainekrieg kennt sie die westlichen und russischen Perspektiven, und beides bringt sie immer wieder zur Verzweiflung.

STANDARD: Nur wenige Beobachter hatten im Februar 2022 mit einem russischen Großangriff auf die Ukraine gerechnet. Waren auch Sie damals überrascht?

Khrushcheva: Ich hatte nicht damit gerechnet. Eine halbe Stunde vor dem Einmarsch wurde ich bei einem Interview gefragt, ob ich damit rechne, und habe mit Nein geantwortet. Ich hatte Putin als vorsichtigen Charakter eingeschätzt, der nicht mehr abbeißt, als er kauen kann. Was er tat, war wahnhaft, aber aus seiner Sicht offenbar vernünftig.

STANDARD: Es gibt bis heute zwei Erklärungen für seine Motive: die Angst vor der Nato oder seine großrussische Ideologie. Was hat überwogen?

Khrushcheva: Es ist beides. Es war weniger Angst vor der Nato als sein Ärger und Zorn, dass er und Russland nicht respektiert werden. Seine Reaktion war: Wir werden euch eine Lektion erteilen, wenn ihr nicht auf uns hört. Und es gab auch eine persönliche Angst, dass die USA ihn töten könnten, so wie sie es mit Saddam Hussein getan hatten. Und dann kam Corona dazu, nach der jahrelangen Isolation eine Art Post-Corona-Wutsyndrom, so wie ein Flugpassagier, der eine Flugbegleiterin schlägt, weil sie auf die Maskenpflicht hinweist.

STANDARD: Aber was ist mit all seinen nationalistischen Essays und Reden, wonach die Ukraine zu Russland gehört?

Khrushcheva: Das hat sich nach und nach entwickelt. Putin hat diese panslawistischen Wälzer schon früher gelesen, war von Alexander Solschenizyn beeinflusst. Er dachte sich wohl: Wenn wir die slawischen Länder vereinen, wird uns die Welt wieder respektieren.

STANDARD: Hätte der Westen durch eine andere Politik diesen Krieg verhindern können?

Khrushcheva: Ich glaube schon, aber das ist hypothetisch. Es gibt zwei Denkweisen: Die eine sieht bei Putin einen klaren Kurs, der spätestens 2008 mit dem Krieg gegen Georgien begonnen hat und im Überfall auf die Ukraine endete. Die andere sagt: Putin war nicht immer so, er war weniger Putin, er war Baby-Putin. Aber er fühlte sich von den USA ständig beleidigt. Dort hieß es: Wir haben den Kalten Krieg gewonnen, Russland ist undemokratisch, seine Wirtschaft ist schwach. Das Bild wurde von Hollywood geprägt, und dort blieb Russland auch nach dem Ende der Sowjetunion der Feind. Dieses Feindbild wurde ständig gepflegt und wurde schließlich Realität. Bei Russland sind solche psychologischen und kulturellen Faktoren immer wichtig.

STANDARD: Also ging es gar nicht so sehr um die Nato-Erweiterung?

Khrushcheva: Doch, um die ging es auch. Ich war Anfang der 1990er-Jahre Assistentin des großen US-Denkers George Kennan, und der hat damals schon alle gewarnt, dass die Erweiterung Probleme schaffen wird, egal, ob sie gegen Russland gerichtet ist oder nicht. Denn in Moskau wird es so gesehen werden. Und er hat recht gehabt. Wenn Wolodymyr Selenskyj einer Neutralität nach österreichischem Vorbild zugestimmt hätte, wäre es vielleicht anders gekommen.

STANDARD: Russland wirkt heute wie ein totalitärer Staat. War es das schon vorher, oder ist das erst die Folge des Kriegs?

Khrushcheva: Das hat sich entwickelt. Russland war lange Zeit eine funktionierende Autokratie. 2020 konnte Alexei Nawalny noch frei herumreisen. Als er vergiftet und nach seiner Rückkehr verhaftet wurde, gab es Proteste auf der Straße. Das ist in einer Diktatur nicht möglich. Es gab immer noch Medien, die online frei berichten konnten. Und selbst seit Beginn des Kriegs ist es kein totalitärer Staat geworden. Ich war bis Jänner dieses Jahres sechs Monate in Russland und habe Interviews gegeben. Es gibt freie Youtube-Kanäle. Zum Jahrestag des Kriegsbeginns fanden Demonstrationen statt. In St. Petersburg waren es rund tausend Demonstranten, von denen wurden 50 festgenommen und rasch wieder freigelassen. Ein Theaterstück eines Kriegsgegners wird aufgeführt, aber sein Name nicht genannt. Es fühlt sich an wie bei George Orwell. Es ist schlimm, aber wir sind noch nicht im Jahr 1937, als Stalins großer Terror begann.

STANDARD: Glauben die Menschen der Propaganda und unterstützen den Krieg wirklich? Oder ist es ein Zynismus wie in der späten Sowjetära?

Khrushcheva: Ich glaube, ein Viertel ist wirklich für den Krieg, 30 Prozent sind dagegen, und der Rest will nur überleben. Die Sanktionen spielen Putin in die Hände. Er sagt, der Westen will uns besiegen. Es ist normal, dass dann ein Verteidigungsmechanismus einsetzt und die Menschen das glauben. Man kann sich auch nicht wehren, jeder ist eingeschüchtert. In Moskau sind ein Drittel aller Personen auf der Straße Polizisten, an jeder U-Bahn-Station steht einer. Aber schauen wir uns doch an, was die Russen lesen, und sie lesen viel: Die meistgekauften Bücher sind Ratgeber, und dann folgt bereits Orwells "1984". Das sagt viel aus.

STANDARD: Ist es nicht doch möglich, dass sich die Männer rund um Putin gegen ihn stellen, wenn der Krieg schlecht läuft?

Khrushcheva: Möglich schon, aber nicht wahrscheinlich. Bei der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am 22. Februar 2022 hätte es geschehen können, damals waren alle schockiert über das, was Putin sagte. Aber als dann die Sanktionen einsetzten, sahen die Eliten keine andere Möglichkeit, als sich hinter die Fahne zu stellen. Auch das Bild der Kollektivschuld im Westen spielt Putin in die Hände. Sollte er den Krieg wirklich verlieren, dann würden sich die Eliten wohl überlegen, wie sie da herauskommen. Aber Putin verliert den Krieg nicht genug, damit die Eliten sich gegen ihn stellen, und er gewinnt ihn auch nicht. Solange ein Patt herrscht, bleiben sie bei ihm.

STANDARD: Westliche Geheimdienste weisen immer wieder auf den katastrophalen Zustand der russischen Armee hin. Ist das übertrieben?

Khrushcheva: Ja. Das redet man sich im Westen ein. Die Armee ist schwächer, als Putin dachte. Aber sie kämpft seit einem Jahr gegen die modernsten westlichen Waffen und die massive Unterstützung der US-Geheimdienste für die Ukraine, und sie hält sich ganz gut. Ich rechne mit keinem Zusammenbruch. Stattdessen wird weitergewurstelt, und das geht sehr lange. Wenn die Armee nicht kollabiert, ist das für Putin bereits ein Sieg.

STANDARD: Sie sagen, die Sanktionen helfen Putin. Hätte der Westen darauf verzichten sollen?

Khrushcheva: Ich bin gar nicht gegen Sanktionen an sich. Aber man hätte sie anders gestalten sollen. Zu viele Sanktionen betreffen den Alltag der Menschen. Aber Putin geht nicht zu McDonald's, er trinkt kein Coca-Cola, er wechselt kein Geld in der Sberbank. All das haben die Russen als Strafe für sich empfunden. Ein Fehler war es, dass 2014 nicht härtere Sanktionen erlassen wurden. Damals war Putins Polizeistaat noch nicht so stark ausgebaut. Da hätten sich die Menschen viel eher wehren können als heute.

STANDARD: Wie könnte dieser Krieg denn enden?

Khrushcheva: Solange sich an der Ostfront militärisch nichts ändert, wird er weitergehen. Den Krieg zu gewinnen ist für Putin wichtiger als alles andere. Wäre er weg, dann gäbe es eine Chance, dass sich seine nationalistische Politik ändert. Auch mit Stalins Tod endete der Stalinismus. Die Ukraine ist Putins persönliche Obsession, niemand in Russland interessiert sich ernsthaft dafür. Aber je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird es, einen Frieden zu verhandeln und Boden aufzugeben. Das würde einen sehr geschickten Politiker erfordern.

STANDARD: Sehen Sie irgendein hoffnungsvolles Szenario für Russlands Zukunft?

Khrushcheva: Derzeit nicht. Dabei gab es einst eine Chance. Russland war eine Zeitlang eine funktionierende Autokratie, so wie Singapur. Aber das Problem ist, dass russische Führer nie die Macht aufgeben wollen. Wenn Putin 2012 darauf verzichtet hätte, wieder Präsident zu werden, hätte Russland eine goldene Zukunft haben können. Er hat diese Chance verpasst. Jetzt sehe ich kein gutes Szenario mehr. Nach diesem Krieg wird niemand mehr Russland vertrauen, selbst wenn es sich ändert.

STANDARD: Kann Russland je ein normales Land werden, das mit seinen Nachbarn im Frieden lebt?

Khrushcheva: Wir könnten wieder eine Phase des Tauwetters oder der Perestroika wie unter Nikita Chruschtschow oder Michail Gorbatschow erleben, aber ich befürchte, dass das Land danach wieder in die Repression zurückfällt. Solange es keine echten freien Wahlen gibt, wird Russland in diesem Teufelskreis steckenbleiben. Und für eine funktionierende Demokratie ist es einfach zu groß. Es müsste in einen föderalen Staat verwandelt werden, nach dem Vorbild der Schweiz. Das hat Chruschtschow versucht und wurde auch deshalb abgesetzt.

STANDARD: Das liefe doch gegen alle Gesetze der russischen Geschichte, die sich immer in Richtung Zentralismus bewegt haben.

Khrushcheva: Es ist Zeit für Russland, sich gegen seine Geschichte zu stellen. (Eric Frey, 14.3.2023)