Die deutsche Journalistin Angelina Boerger (32) bekommt mit 29 Jahren die Diagnose ADHS. Nun will sie mit ihrem Buch und ihrem Instagram-Kanal "Kirmes im Kopf" anderen Menschen, denen es ähnlich geht, helfen und ihnen eine Plattform zum Austausch geben.

Foto: Annika Fußwinkel

Als Angelina Boerger mit 29 Jahren die Diagnose ADHS bekommt, bricht sie in Tränen aus. Aber nicht, weil sie bestürzt darüber ist, die Tränen kommen ihr, weil sie erleichtert ist. Endlich hat sie einen Namen für ihr "Anderssein". Weil sie zuvor kaum etwas über ADHS im Erwachsenenalter gehört hat, ist für sie ab diesem Zeitpunkt klar, dass es viel mehr Aufklärung darüber geben muss, und sie beschließt, ein Buch zu schreiben.

In vielen Köpfen ist immer noch fest verankert: ADHS haben vor allem Buben, die nicht still sitzen können. Dabei sind genauso Mädchen und auch Erwachsene davon betroffen, Bei ihnen äußert es sich häufig nur anders, ihre Unruhe findet mehr im Inneren statt. Typische Beispiele dafür sind, wenn sich die Gedanken im Kreis drehen, Deadlines nicht eingehalten werden können, Selbstzweifel oder häufiges Zuspätkommen. Um trotzdem in der Gesellschaft und im Beruf nicht negativ aufzufallen, versuchen viele mit nicht diagnostiziertem ADHS, diese Schwierigkeiten zu verdecken oder zu kompensieren, was einen erheblichen Kraftaufwand für die Betroffenen bedeutet. Nicht selten sind Burnout, Depressionen, Suchtverhalten oder Angsterkrankungen die Folge. Die eigentliche Ursache, nämlich ADHS, wird jedoch immer noch häufig übersehen.

Um mehr Bewusstsein für ADHS im Erwachsenenalter zu schaffen, begann Boerger ihre Geschichte aufzuschreiben. Herausgekommen ist das Buch "Kirmes im Kopf". Im STANDARD-Interview erzählt sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Alltag konfrontiert ist und warum es so wichtig ist, mit alten Vorurteilen aufzuräumen.

STANDARD: Sie haben die Diagnose ADHS erst im Erwachsenenalter bekommen. Wie kam es überhaupt dazu?

Boerger: Das war reiner Zufall. Bei einer Recherche für den WDR zum Thema ADHS habe ich zum ersten Mal davon gehört, dass auch Erwachsene diese Diagnose bekommen können. Für mich war das bis dahin immer etwas, das Kinder und vielleicht noch Jugendliche haben. Aber auf einmal merkte ich, dass alles, was dort beschrieben wurde, zu 100 Prozent auch auf mich zutraf. Ich begann Rückschlüsse auf mein eigenes Leben zu ziehen, und mir war ziemlich schnell klar, dass auch ich ADHS haben muss. Bis ich dann die Diagnose auch schwarz auf weiß hatte, hat es dann aber noch einige Monate gedauert.

STANDARD: Was hat sich seitdem für Sie verändert?

Boerger: Für mich hat sich alles verändert. Endlich konnte ich anfangen, Frieden mit mir zu schließen, denn nun weiß ich, dass mein Verpeiltsein nicht daran liegt, dass ich zu dumm oder zu faul bin, sondern mein Gehirn funktioniert einfach ein bisschen anders. Leider denken viele Menschen immer noch, dass Gehirne alle gleich funktionieren müssen. Wenn es nicht so ist, bekommt man schnell einen Stempel, dass etwas nicht stimmt, dass man nicht normal ist. Erst ganz langsam beginnen die Menschen zu begreifen, dass diese Vielfältigkeit etwas Schönes und Bereicherndes sein kann.

STANDARD: Sie sprechen von ihrem Verpeiltsein. Was meinen Sie damit?

Boerger: Es sind häufig Kleinigkeiten, die sich dann summieren. Etwa die Wäsche so lange in der Waschmaschine zu vergessen, bis sie modrig riecht und man sie dann noch mal waschen muss. Sich aus der Wohnung auszuschließen, weil man schon wieder den Schlüssel drinnen vergessen hat, oder auch in den falschen Bus zu steigen und bis ans andere Ende der Stadt zu fahren. Das sind alles Dinge, die einen im Alltag erheblich aufhalten und die andere Menschen nur ziemlich schwer verstehen können, vor allem, wenn sie häufig vorkommen.

STANDARD: Aber fast jeder hat schon einmal die Wäsche vergessen oder sich aus der Wohnung ausgesperrt. Was macht den Unterschied zu Personen mit ADHS aus?

Boerger: Das stimmt natürlich. Einzelne Dinge davon passieren anderen Menschen wahrscheinlich auch hin und wieder. Bei ADHS kommt es aber auf die Summe an. Wichtig ist dabei auch, dass sie nicht an besonders fordernde Abschnitte im Leben gebunden sind. Wer gerade in einer stressigen Phase steckt, vergisst sicher auch mal die Wäsche. Mir passieren diese Dinge jedoch kontinuierlich und über einen langen Zeitraum hinweg. Dazu kommt, dass man auch Konsequenzen in Kauf nimmt, die kaum jemand nachvollziehen kann. Es kam schon mal vor, dass ich es nicht geschafft habe, meine 700-Euro-Kleider-Bestellung zurückzuschicken, obwohl ich vier Wochen Zeit dafür hatte. Ich hab dieses Paket jeden Tag liegen gesehen und wusste auch, dass es ganz dringend verschickt werden muss. Aber was soll ich sagen, ich habe es einfach nicht geschafft, damit zur Post zu gehen. Irgendwann habe ich es gar nicht mehr wahrgenommen. Als Konsequenz hat man dann Gewand im Wert von 700 Euro zu Hause, das einem nicht mal passt oder gefällt.

STANDARD: Und wie sieht es im Berufsleben aus? Haben Sie dort auch schon negative Erfahrungen gemacht?

Boerger: Beruflich kann diese Verpeiltheit einen ganz schön in die Bredouille bringen. Etwa wenn man die Bewerbungsfrist nicht einhalten konnte und somit nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen wird. Oder man nicht bezahlt wird, weil der Text, den man schreiben sollte, zu spät abgegeben wurde. Abgesehen vom finanziellen Verlust, der vielleicht sogar dazu führt, dass man die nächste Miete nicht bezahlen kann, macht das auch etwas mit dem Selbstwertgewühl. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich schon wieder gescheitert und einfach zu dumm bin. Die anderen schaffen es ja auch, diese Deadlines einzuhalten. Ich habe dann im Laufe der Jahre gelernt, wie auch ich diese Deadlines einhalten kann. Das funktioniert allerdings nur, wenn man häufig über die eigenen Grenzen geht. Es kam nicht nur einmal vor, dass ich die ganze Nacht gesessen bin, um diesen einen Text doch noch rechtzeitig abgeben zu können, weil ich es die Wochen zuvor, die ich dafür Zeit gehabt hätte, einfach nicht geschafft habe. Das Problem dabei ist, dass dieses über Grenzen gehen jedes Mal enorm viel Energie kostet, die man nicht zurückbekommt. Nicht selten kommt es dann nach ein paar Jahren zum großen Knall. Viele landen dann etwa im Burnout oder bekommen Depressionen, ohne die eigentliche Diagnose, nämlich ADHS, zu kennen.

STANDARD: Sie hatten zu Beginn ja nur die Vermutung, dass es ADHS sein könnte. Wie haben Sie die Diagnose bekommen?

Boerger: Ich war bereits in einer Verhaltenstherapie, weil ich das Gefühl hatte, ich kann mit Stress nicht gut umgehen. Ich hatte Angst, dass ich in einem Burnout lande, wenn ich so weitermache wie bisher. Ich wollte lernen, mich zusammenzureißen und Struktur in mein Leben zu bringen. Zumindest dachte ich, dass ich das machen muss. Meiner Therapeutin erzählte ich dann von meinem Verdacht und sie antwortete nur, dass sie von ADHS im Erwachsenenalter zwar bereits gehört hätte, aber selbst nach 22 Jahren Berufserfahrung noch nie diese Diagnose gestellt hat und sich erst erkundigen müsse. Mir war in diesem Moment klar, dass sie nicht die richtige Therapeutin für mich sein kann. Also wandte ich mich an meine Hausärztin, die mir einige Kontakte gab. Doch überall, wo ich anrief, war entweder Aufnahmestopp, oder ich bin gar nicht erst durchgekommen. Der erste Termin, der mir angeboten wurde, war 18 Monate später. Aber als dann tatsächlich ADHS diagnostiziert wurde, hatte ich Tränen in den Augen. Nicht weil ich traurig war, ich war einfach so froh, nun endlich zu wissen, dass mein Gehirn einfach anders funktioniert und es nicht an mir liegt, dass ich einige Sachen nicht so hinbekomme wie andere Menschen.

STANDARD: Wie gehen Sie mit der Diagnose um?

Boerger: Ich will anderen Menschen davon erzählen und ihnen eine Plattform geben, um sich darüber auszutauschen. Selbst wenn es ginge, würde ich aber mein ADHS nicht mehr hergeben wollen. Denn neben den ganzen Anstrengungen, die ADHS mit sich bringt, gibt es auch viele positive Dinge. Wie ich auf die Welt blicke etwa, ist für mich einfach etwas ganz Besonderes. Ich nehme alles ganz intensiv wahr. Das kann anstrengend sein, das kann aber auch wundervoll sein. Weil man sich leicht mitreißen lässt und weil man alles spürt und ich mich auch an den kleinsten Dingen erfreuen kann. Natürlich sind dazu auch andere Menschen in der Lage, aber vielleicht nicht in dieser Intensität. Außerdem liebe ich es, dass ich mich immer wieder umentscheide, dass ich immer wieder alles über dem Haufen werfen kann und mich verändere. Es ist ständig viel los in meinem Kopf. Wie bei der Kirmes dreht sich immer alles weiter. Das ist es auch, was mich antreibt und was mich glücklich macht. (Jasmin Altrock, 15.3.2023)