Inna Sowsun ist eine von 20 ukrainischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern der kleinen liberalen Oppositionspartei Holos (Stimme). Gerade eben hat sie einen Gesetzesentwurf für die gleichgeschlechtliche Ehe im Parlament eingebracht – mitten im Krieg, inmitten russischer Bombardements, inmitten politisch turbulenter Zeiten. Dabei ist die gleichgeschlechtliche Ehe in der Ukraine ein gar nicht so kontroversielles Thema, wie manche vielleicht denken.

Pride-Märsche mussten in der Vergangenheit oft vor Gegendemonstranten geschützt werden.
Foto: Wojtek Radwanski / AFP

STANDARD: Wieso wird dieser Gesetzesvorschlag gerade jetzt eingereicht?

Sowsun: Ich glaube, da gibt es sehr viele Gründe dafür. An sich ist die gleichgeschlechtliche Ehe seit sieben Jahren in der Menschenrechtsstrategie der Ukraine festgeschrieben – nur dass niemand tatsächlich an einer solchen Gesetzgebung gearbeitet hat. Und der Umstand, dass es an einer solchen rechtlichen Möglichkeit fehlt, ist ganz einfach diskriminierend. Und dagegen muss etwas unternommen werden.

Aber es gibt noch drängendere Gründe: Wir haben viele LGBTQ-Leute, die in der Armee kämpfen, die uns verteidigen – die aber ihre Beziehungen nicht rechtlich regeln können. Das bedeutet also, dass wenn diese Menschen verwundet werden, ihre Partner keine medizinischen Entscheidungen treffen dürfen. Dafür braucht es eine rechtlich bindende Beziehung zwischen Partnern. Oder wenn das Schlimmste eintritt, wenn er oder sie getötet wird, kann der Partner keine Entscheidungen über die Beerdigungsmodalitäten treffen. Und da sprechen wir jetzt noch gar nicht von Sozialleistungen für Hinterbliebene. Darum werden wir das durchsetzen.

STANDARD: Gibt es für all das konkrete Beispiele?

Sowsun: Es gab da einige Fälle. Etwa eine junge Frau, die ihren besten Freund geheiratet hat, der zur Armee ging – ein homosexueller Mann, dessen Eltern die Partnerschaft des Sohnes mit einem Mann nicht akzeptiert hatten. Der Lebenspartner des Mannes hätte im Todesfall also in keiner Weise auf die Beerdigung seines geliebten Menschen Einfluss nehmen können. Daher hat diese Frau also ihren besten Freund geheiratet und versprochen, im Sinne des Partners zu handeln im Ernstfall. Also: Die Menschen, die einander lieben, können ihre Beziehungen nicht rechtlich regeln. Und das Fehlen dieser rechtlichen Möglichkeit führt zu ganz praktischen rechtlichen Problemen für genau jene, die gerade jetzt für unsere Freiheit kämpfen.

STANDARD: Ist die Gesellschaft denn bereit dafür? Die Ukraine war bisher nicht ein Land, das durch sonderliche LGBT-Freundlichkeit hervorgestochen ist. Gay-Pride-Märsche gab es zwar, aber immer auch unter sehr breitem Polizeischutz wegen Gegenkundgebungen.

Sowsun: 56 Prozent der Ukrainer unterstützen heute die gleichgeschlechtliche Ehe. Es hat sich in der Sache unglaublich viel getan. Die Menschen vertrauen der Armee, die Armee genießt extrem hohes Vertrauen – und dieses Vertrauen in die Armee ist auf den gesamten LGBTQ-Bereich übergeschwappt, weil sehr viele Soldaten offen homosexuell sind.

Der andere Grund ist: Der Anteil der Menschen, die überhaupt nichts mehr mit Russland zu tun haben wollen, ist sehr hoch. Und Russland ist ein extrem homophober Staat. Das sind die Gründe, wieso sich die Haltung gegenüber LGBTQ-Meschen so massiv geändert hat. Es hat in den Jahren vor diesem großen Krieg bereits eine graduelle Verbesserung gegeben, aber seit dem Februar 2022 hat sich das radikal gerändert.

Inna Sowsun (auf dem Monitor): "Wir kämpfen für Freiheit, für Demokratie, für gleiche Rechte für alle."
Foto: IMAGO/Future Image

STANDARD: Inwiefern wird das sichtbar?

Sowsun: Ich unterrichte seit zwölf Jahren auch an der Universität. Als ich damit begonnen habe, hat es zu Debatten mit den Studenten geführt, wenn man das Thema bloß angesprochen hat. Heute wird grundsätzlich einmal davon ausgegangen, dass das normal ist. Aber freilich: Da geht es im Speziellen um junge Menschen. Man sieht auch, dass homosexuelle Menschen wie auch das gesamte Thema in sozialen Medien präsenter ist. Und: Ich habe seit der Ankündigung des Gesetzes viele Interview gegeben, und ich war mental darauf vorbereitet, dass von ukrainischen Medien da schon auch klare Ablehnung kommt. Ich war mir nicht sicher, wie die das Thema angehen würden. Und nicht in einem Gespräch kam Ablehnung.

STANDARD: Sie sind in Opposition. Welchen realen Chancen hat der Vorschlag also?

Sowsun: Unser Parlament ist etwas konservativer als die Gesellschaft – obwohl sehr viele junge Mandatare im Parlament sitzen. Das ist sonderbar, aber so ist es. Viele haben Angst, mit liberalen Positionen Kritik zu ernten. Viele haben also gesagt: Sie wollen nicht als Mitautoren des Vorschlags genannt werden, haben zugleich aber klar gesagt, dass sie dafür stimmen werden.

Es wird passieren, und alle wissen das. Sie wissen, dass wir diese Gesetzgebung beschließen müssen: weil sie in der Menschenrechtsstrategie festgeschrieben ist. Und selbst konservative Abgeordnete wissen, dass das passieren muss eines Tages – weil uns das bei der Annäherung an die EU helfen wird. Aber auch hier gibt es diese Haltung: Putin ist homophob, also werden wir es tun. Die Frage ist also nur, wie lange es dauern wird.

STANDARD: Man gewinnt in der Ukraine den Eindruck, dieser russische Krieg bietet einer ganzen Reihe an liberalen Positionen Rückenwind, weil man sich von Russland abheben will. Ist das so?

Sowsun: Absolut. Die Menschen haben für sich herauskristallisieren müssen, wofür wir alle zusammen kämpfen. In einer Gesellschaft wie vor dem großen Krieg, die nicht in diesem Ausmaß wie jetzt politisch mobilisiert war, konnte man sich viel leichter aussuchen, welches Thema man unterstützt und welches nicht. Aber es ist jetzt klar: Wir kämpfen für Freiheit, für Demokratie, für gleiche Rechte für alle. Das ist sehr vielen Menschen klar geworden – und vor allem auch denen, denen dieses Thema bisher egal war. Und es ist sehr klar geworden, wieso wir uns von Russland unterscheiden. Das soll in keiner Weise bedeuten, dass die Ukraine eine perfekte Demokratie ist, das ist sie nicht. Aber es ist sehr klar geworden, was unsere Probleme sind und wo sie liegen. (Stefan Schocher, 15.3.2023)