Der spätberufene Musiker Lonnie Holley singt sich aus dem Tal der Tränen hin zur Erlösung: "Greatness come in the morning – and kindness will follow your tears."

Foto: Jagjaguwar

Auf seinem letzten Album Mith von 2018 stellte Lonnie Holley angesichts eines wieder erstarkenden Rassismus zu Hause in den USA gallig fest: "I woke up in a fucked-up America". Und: "Let me out of this dream". Der 1950 geborene Mann war in Alabama in bitterer Armut in einer dysfunktionalen Großfamilie aufgewachsen. Bald wurde er in eine staatliche "Erziehungseinrichtung" verfrachtet und dort für mindestens ein Menschenleben lang gequält und traumatisiert. In den Zehnerjahren dieses Jahrhunderts schienen nun die Uhren wieder zurückgedreht zu werden. Ein Albtraum.

Lonnie Holley

Holley improvisierte in Fucked-up America zu bedrohlich wie eine Schlammlawine abgehendem Free Jazz über den scheinbar hoffnungslosen Zustand seines Landes. Allerdings darf man Optimismus gegen alle Vernunft nicht unterschätzen. Mit heller, warmer und am Erweckungsgospel geschulter Stimme sah Holley auch ein wenig Licht.

Erdschwere

I Snuck Off The Slave Ship handelte von Gewalt und Unterdrückung sowie einem erhofften Befreiungsschlag. Dazu hörte man in Coming Back (From the Distance Between the Spaces of Time) ruhigere, meditative, in die 1960er-Jahre zurückweisende Klavierimprovisationen (Sun Ra Arkestra, Art Ensemble of Chicago) oder das sich am spirituellen Assoziationsfluss eines Van Morrison orientierende Sometimes I Wanna Dance. Trotz aller Erdschwere war in dieser Passionsgeschichte am Ende Zuversicht zu spüren.

Auf seinem neuen Album Oh Me Oh My hat sich diese Zuversicht trotz aller widrigen Umstände nun zu einem reifen Alterswerk verdichtet. Lonnie Holley ist nicht nur in seinem musikalischen Schaffen ein Spätberufener. Nach Jobs als Totengräber oder Müllmann begann er Ende der 1970er-Jahre auch eine Karriere als autodidaktischer Schöpfer von Skulpturen aus Fundobjekten, die er auf den Müllhalden unserer Zivilisation entdeckte. Das neue Album Oh Me Oh My setzt nun ebenfalls auf eine Mischung aus historischen Altlasten und zeitgenössischer Geschichtsbetrachtung mit einem Blick in die Zukunft.

Lonnie Holley

Produziert wurde das Album vom Briten Jacknife Lee. Der neigt zwar sonst gern in seinen Arbeiten für U2, R.E.M. oder Taylor Swift mehr zu einer Kunst der Überwältigung. Für die gute Sache hat er sich allerdings auf das Wesentliche fokussiert. Das bedingt, dass Lonnie Holley seinen Gesangsimprovisationen einen Zug zum Tor verordnet.

Himmelfahrt

Zwar zeichnet sich das zentrale Stück des Albums, das Holleys Sklavenjahre als misshandelter Teenager in Mount Meigs, der "Alabama Industrial School for Negro Children", beschreibt, durch eine ungeahnte Brutalität aus. Mit Gastsängerinnen wie der fantastischen Rokia Koné aus Mali, Michael Stipe von R.E.M., Sharon van Etten oder Spoken-Word-Poetin Moor Mother wird zu atmosphärischen, nicht nur in den Abgrund, sondern verstärkt auch himmelwärts strebenden Stücken wie I Am A Part Of The Wonder oder If We Get Lost They Will Find Us allerdings eine Stimmung verbreitet, die eines schafft: Sie macht Mut und gibt Kraft.

Lonnie Holley

Flächige Keyboards und Holleys zutiefst berührende Stimme künden vom Sonnenaufgang: Wie kann man schöner in den Tag gleiten als mit dem beseelten Gospel Kindness Will Follow Your Tears mit Chorengerl Bon Iver auf Urlaub im irdischen Jammertal? Ein Album des Jahres. (Christian Schachinger, 16.3.2023)