Beim jährlichen Verteidigungstraining für Zivilisten posierten im vergangenen Sommer auch Soldaten in Taipeh.

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Eigentlich wollte Tony Lu gar nicht an die Front, sondern bloß in der Versorgung helfen. Doch als er im März 2022 in Kiew ankam, war schnell klar: Es fehlt an allem, vor allem an Kämpfern. Also nahm der 34-Jährige an einem Training in Kiew teil und ging dann nach Osten. In Isjum war er wochenlang in der Defensive tätig, in einer internationalen Legion. Vor allem Bunker und Tunnel haben sie gegraben. Immer wieder seien vor ihm Bomben eingeschlagen. Er hatte Glück, sie sind nicht explodiert.

Lu arbeitet eigentlich in einem Supermarkt in Taipeh. Als Russland vor einem Jahr die Ukraine überfiel, war sein Entschluss schnell gefasst: "Ich dachte, wenn ich helfe, werden sie uns später auch helfen. Im Fall der Fälle."

Im Fall der Fälle – das ist, falls China die kleine Insel in Südostasien gewaltsam ans Festland angliedern will. Mit der Drohkulisse lebt man dort seit Jahrzehnten, denn für China ist Taiwan abtrünniges Territorium. In den letzten Jahren, vor allem seit Xi Jinping an der Macht ist, hat sich die Lage verschärft. So richtig glaubte man in Taiwan aber nicht an einen Überfall. Erst die Invasion in der Ukraine verlieh dem Drohszenario neue Dringlichkeit.

Nur ein paar Dutzend Taiwaner gingen in die Ukraine, und nur eine Handvoll wie Lu an die Front. Die meisten wollen dort lernen: Wie sichert man Nachschub ab? Wie fliegt man Drohnen? Wie bindet man Zivilisten ein?

Millionenspende für Verteidigungsverein

Lu hilft seit seiner Rückkehr im vergangenen Sommer beim Militärverein Camp66 mit, im Norden Taipehs, der Schießtrainings mit Luftgewehren für Zivilisten anbietet. In Taiwan gibt es diese zivilen Verteidigungsorganisationen schon länger. Seit dem Ukrainekrieg genießen sie wachsenden Zulauf. Ein Verein, die Kuma Academy, erhielt von einem Milliardär gar eine Riesenspende.

Bei Kuma geht es nicht primär um Schießtraining oder Vorbereitung auf die Front. In einem gedrungenen Hörsaal inmitten Taipehs hält ein Mann eine blaue Binde in die Luft. Er zeigt, wie man damit Blutungen stoppen kann. Der Raum ist voll. Menschen allen Alters und Geschlechts machen eifrig Notizen. Dann probieren sie die Handgriffe selbst aus.

Unterricht in Kriegskunde

Am Vormittag hatten sie schon Unterricht in moderner Kriegskunde und in Desinformation. Und nach der medizinischen Einheit kommt noch Evakuierung dran: Wie kann ich mich im Fall eines Angriffs in Sicherheit bringen? Einen Tag lang, jeden Sonntag, findet der Basiskurs statt. Über Wochen ist er ausgebucht, umgerechnet 30 Euro zahlen die Teilnehmer für diese Vorbereitung auf Kriegszeiten.

Ziel sei es, die psychologische Verteidigung Taiwans aufzubauen, sagte Mitbegründer Puma Shen. Falls China angreift, sollen die Taiwaner vorbereitet sein. Sie sollen wissen, was zu tun ist, und sich nicht ergeben. "Eigentlich dauert es mehr als zehn Jahre, diese Mentalität aufzubauen", sagt der 40-Jährige. "Aber wir denken, wir haben nur drei bis fünf."

Das schätzen nicht alle so düster ein. Chinas Präsident Xi hat zwar wiederholt klargemacht, dass man Taiwan zur Not auch mit Gewalt eingliedern würde. Ob, und wenn ja, wann, ist aber offen. Schon 2027 könnte es so weit sein, meinen manche US-Militärs. Erst 2030 oder später, sagen andere. Vielleicht passiert es auch gar nicht, sagen wieder andere.

Militärdienst verlängert

Regierung und Militär arbeiten trotzdem mit Hochdruck an einer Lageeinschätzung: Gibt es genug Schutzräume für die 23 Millionen Bewohner? Wie können Stromverbindungen oder die Nahrungsversorgung aufrechterhalten werden? Präsidentin Tsai Ing-wen hat außerdem den Militärdienst von vier auf zwölf Monate verlängert.

Und Taiwans Militär will weg von Symbolkäufen wie den großen Abrams-Panzern, hin zu wendigeren Geräten, die auf der zerklüfteten Insel im Ernstfall auch tatsächlich einsetzbar wären. Eine amphibische Landung von Chinas Armee wäre ein ganz anderes Kaliber als der Überfall auf die Ukraine. Man muss die Meerenge von Taiwan überbrücken, auf gerade einmal 14 Stränden könnte so eine Landung überhaupt stattfinden. Und dann befänden sich Chinas Truppen nicht auf flachem Land, sondern im zerklüfteten Bergland Taiwans.

Hier wären Zivilisten wieder entscheidend, meint Shen: Mit einfachen Straßenblockaden könne man viel ausrichten. Kuma bietet auch Survival-Gardening und Wilderness-Training an, um den Rückzug in die Berge zu proben.

Keine Alternative zum Militär

Schwierig läuft noch die Zusammenarbeit zwischen Regierung, Militär und den zivilen Vereinen ab. Ziviles Militärtraining hat eigentlich lange Tradition in Taiwan, wo bis 1987 Kriegsrecht galt. Mit der Demokratisierung wurde dieses dann sukzessive abgebaut. Das ändert sich nun, allerdings unter neuen Vorzeichen. Aufgrund der Geschichte tun sich zivile Vereine und das Militär schwer miteinander. Manche meinen, Leute wie Puma Shen laufen Gefahr, als Warlord in die Geschichte einzugehen. Andere, vor allem aus Kreisen der Regierungspartei DPP, unterstützen die Initiative. Und trotzdem ist die Regierung damit überfordert, sie einzubinden.

"Wir wollen keine Alternative zum Verteidigungsapparat sein", betont Shen. Kuma will auch nicht radikal wirken. Das würde ja den Krieg provozieren, den man zu vermeiden versucht. "Dass sie angreifen, ist nur eine Frage der Zeit", meint wiederum Tony Lu. "Ohne Vorbereitung wird es früher passieren." (Anna Sawerthal aus Taipeh, 16.3.2023)