Der Frauenanteil in der Branche ist überraschend hoch.

(Dieses Bild wurden mit der Bilder-KI Midjourney generiert und anschließend per Bildbearbeitung adaptiert. Der Prompt lautete: "editorial style photo of indian developers, half of them female, sitting in an office front of computers and coding. --ar 16:9")

Foto: Foto: Midjourney/Stefan Mey (Bearbeitung: STANDARD)

Von A wie Aadhaar bis Z wie Zomato: Dass Indien eine IT-Nation ist, hat man auch in Österreich schon einmal gehört. Doch während hierzulande jedes Kind Unternehmen wie Apple und Tiktok kennt, sorgen die soeben erwähnten Begriffe aus der indischen IT-Welt eher für ratloses Schulterzucken. Dabei stimmt das Klischee tatsächlich, dass Indien in der globalen IT-Industrie nach wie vor ein großer Player ist. Auch wenn man davon im österreichischen Alltag wenig mitbekommt.

So meldet der indische IT-Verband Nasscom, dass der Umsatz der Branche im vergangenen Jahr um 15,5 Prozent auf 227 Milliarden Dollar angewachsen sei. Für das laufende Jahr prognostiziert der Verband ein Wachstum auf 245 Milliarden Dollar. Das sind rund acht Prozent des indischen Bruttoinlandsprodukts (BIP), im Jahr 1991 ist dieser Anteil noch bei 0,4 Prozent gelegen, wie man in der indischen Zeitung "Times of India" ausführt.

Bis zum Jahr 2030, so schätzt Nasscom-Präsidentin Debjani Ghosh, könnte Indiens Tech-Branche die Marke von 500 Milliarden Dollar knacken. Das wäre mehr als das gesamte prognostizierte österreichische BIP für 2023.

Gottgleicher Unternehmer

Das größte Unternehmen der Branche ist Tata Consulting Services (TCS), welches mit einer Marktkapitalisierung von rund 141 Milliarden Dollar mehr wert ist als so manche westliche Bank. Gegründet wurde es bereits 1968 als Teil des Tata-Mischkonzerns. Bekannt ist Tata vor allem für die eigenen Autos, doch es gibt so gut wie kein Geschäftsfeld, in dem der Konzern nicht angesiedelt ist – von Nahrungsmitteln über die Rüstungsindustrie bis zur Finanzbranche und eben der IT-Dienstleistung.

J. R. D. Tata, der Gründer von TCS, gilt in Indien derart als Kultfigur, dass der Verlag Amar Chitra Katha seiner Lebensgeschichte sogar einen eigenen Comic gewidmet hat. Eine Aufmerksamkeit, die sonst hauptsächlich Hindu-Gottheiten dargeboten wird – die Comics werden von Kindern und Expats gleichermaßen genutzt, um auf niederschwellige Weise in die vielfältige Götterwelt einzutauchen.

Vorreiter bei der E-ID

Und während man hierzulande noch über die Einführung digitaler Ausweise nachdenkt, hat Indien das Aadhaar-System (deutsch: "Fundament") seit 2014 ausgerollt. Dabei handelt es sich um zwölfstellige Codes, mit denen sich Inderinnen und Inder für diverse Dienste identifizieren können, von der Bewerbung um einen Job bis zur Buchung eines Zugtickets.

Mit dem Aadhaar-System hat Indien schon längst digitale Ausweise eingeführt. Dabei werden auch biometrische Daten aufgenommen.
Foto: APA/AFP/NARINDER NANU

Dass es auch massive Datenschutzbedenken gibt, konnte dem Siegeszug des digitalen Ausweises nicht schaden: Laut offiziellem Dashboard sind über 1,36 Milliarden Inderinnen und Inder für das System registriert – also fast die gesamte Bevölkerung.

IT ist weiblich

Den Großteil des besagten Branchenumsatzes macht das Segment IT-Services aus – also das Bereitstellen von IT-Fachkräften für andere Unternehmen. Und auch in puncto Head-Count kann die größte Demokratie der Welt mit Superlativen aufwarten: 5,4 Millionen Menschen sind direkt in dem Sektor beschäftigt. Zwei Millionen dieser Beschäftigten sind weiblich. Und im kommenden Jahr wird erwartet, dass die Branche um 290.000 Beschäftigte wächst, davon 140.000 Frauen.

Dass mit Debjani Ghosh eine Frau an der Spitze des IT-Verbands steht, ist ebenfalls ein Zeichen für die weibliche IT-Power. Ein weiteres Beispiel ist Shradha Sharma, die heute 42-jährige Medienunternehmerin gründete schon 2008 das Medium "Yourstory", das sich – ähnlich wie etwa "Techcrunch" in den USA – allen Themen rund um Start-ups und Technologie widmet. Seit Jahren tritt die Unternehmerin inzwischen auch selbst als Moderatorin auf, führt mit viel Charme und Elan durch die Konversationen – mal gekleidet im modernen Businessoutfit, mal im traditionellen Sari.

YourStory

Günstige Arbeitskräfte

Die Workforce – weiblich ebenso wie männlich – ist es auch, die Indiens IT-Branche auf den Wachstumspfad gebracht hat. Denn die im Vergleich zum Westen noch immer niedrigen Lebenskosten ermöglichen es, niedrige Gehälter zu zahlen und sich somit als günstige Destination für Outsourcing und andere IT-Dienstleistungen zu positionieren.

Das Jobportal Glassdoor gibt an, dass das durchschnittliche Monatsgehalt in der Branche bei 22.247 Rupien (255 Euro) liegt – allerdings mit einer breiten Streuung, die je nach Expertise, Ausbildung, Position und Tätigkeit bis zu einem Gehalt von 186.000 Rupien (circa 2.130 Euro) reichen kann. Davon kann man auch in Megametropolen wie Mumbai und der Tech-Hochburg Bangalore gut leben.

Betrug und Spam

Diese Ungleichheit bringt mit sich, dass es nicht immer sauber zugeht. Nicht nur dass die Fluktuation in der Branche hoch ist und Fachkräfte für ein höheres Gehalt gerne und rasch den Arbeitgeber wechseln – Bewerber agieren auch mit gefälschten Uni- und Arbeitszeugnissen oder schummeln bei Remote-Bewerbungsgesprächen, um sich so einen besseren Job zu erschleichen.

Und wer keinen seriösen Arbeitgeber findet, den kann es auch auf die dunkle Seite der Macht verschlagen: Eine von der indischen NGO Internet Society im Jahr 2017 veröffentlichte Studie kam zu dem Schluss, dass 85 Prozent der rückverfolgbaren Fälle von Telefon-Hotline-Betrug auf Indien zurückzuführen sind. Die Opfer dieser Anrufe gibt es im In- ebenso wie im Ausland: 64 Prozent aller Inderinnen und Inder erhalten täglich mehr als drei Spam-Anrufe.

Foto: Fatih Aydogdu

Künstliche "Indelligenz"

Der starke Fokus auf Personal sorgt auch für Unsicherheit in Hinblick auf eine Technologie, die das Jahr 2023 dominiert wie keine andere: künstliche Intelligenz (KI). "Indien hat nun 30 Jahre lang von Knowledge-Process-Outsourcing gelebt", sagt dazu der österreichische Indien-Experte Wolfgang Bergthaler, der diverse Projekte mit österreichischen Start-ups in Indien durchgeführt hat. "Durch die Entwicklung im Bereich der KI nehmen Maschinen den Menschen in Outsourcingzentren nun viele Jobs weg."

Vor allem simple Tätigkeiten wie einfaches Coding würden dadurch wegfallen. Andererseits habe die indische Wirtschaft in der Vergangenheit bereits erstaunliche Widerstandskraft gezeigt und werde sich wohl entsprechend anpassen, so Bergthaler. Auch in Indien dürfte KI rasch angewandt werden, und es könnten auch hier neue Jobs entstehen, etwa in der Aufbereitung von Daten zum Trainieren der KIs.

Auch ein österreichisches Unternehmen setzt auf dieses Konzept: So kooperiert die in Graz ansässige Firma AVL mit dem US-amerikanischen Start-up Deepen AI, das Menschen in Indien beschäftigt, welche auf Straßenaufnahmen Objekte wie Autospiegel und Verkehrsschilder markieren. Diese einfache, aber wichtige Aufgabe ist Basis dafür, die KIs von Fahrassistenten und später selbstfahrenden Autos zu trainieren.

Brutstätte für Start-ups

Doch auch das ist letzten Endes nichts anderes als eine repetitive, unkreative Tätigkeit. Und die Branche ist seit Jahren bemüht, ihr Image als verlängerte digitale Werkbank des Westens abzuschütteln und sich als Brutstätte für innovative Start-ups zu positionieren. So heißt es seitens Nasscom, dass allein im vergangenen Jahr über 1.300 neue Start-ups gegründet wurden und 23 Jungunternehmen den Status des Unicorns – darunter versteht man Start-ups, deren Bewertung eine Milliarde Dollar übersteigt – erreicht haben.

Und Sharmas "Yourstory" führt in einem Report an, dass die Finanzierungen in indische Start-ups im Vorjahr 24 Milliarden Dollar ausmachte. Zum Vergleich: Im wohlhabenden Österreich waren es im Vorjahr in Summe eine Milliarde Euro.

Wer sind diese Unternehmen? Blättert man durch Listen der größten indischen Unicorns, so findet sich dort unter anderem das eingangs erwähnte Zomato: eine 2008 gegründete App, in der die Userinnen und User Restaurants bewerten und ansehen können. Makemytrip, der Erstplatzierte im Ranking, ist nichts anderes als eine Reiseplattform. Flipkart, die Nummer drei, ist ein Onlinemarktplatz, der sich sogar die Gründungsgeschichte mit dem globalen Platzhirsch Amazon teilt: Auch hier wurde damit begonnen, online Bücher zu verkaufen.

Sonderlich kreativ wirkt das also nicht, und im Gegensatz zum chinesischen Tiktok hat keines dieser Unternehmen im Westen eine nennenswerte Relevanz. Allerdings betont man bei Nasscom auch, dass sich das Land zu einer Wiege für insgesamt über 3.000 sogenannte Deeptech-Start-ups entwickle – also jene Unternehmen, die technisch anspruchsvolle Lösungen entwickeln, welche die Systeme im Hintergrund am Laufen halten, im Alltag aber nicht sichtbar sind.

Setzt sich auch nur eine Handvoll dieser Start-ups durch, so setzt Indien seinen Weg anders, aber dennoch konsequent fort: eine globale IT-Macht zu sein – ohne dass man im Westen genau erklären kann, wie das Land eigentlich zu diesem Titel kam. (Stefan Mey, 19.3.2023)