Ein Lager für Erkundungsbohrungen am geplanten Standort des Willow-Ölprojekts am North Slope von Alaska. Eines Tages könnten Firmen auch nach weißem Wasserstoff bohren.

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Ein Ereignis hat sich in das kollektive Gedächtnis des Dorfes Bourakébougou in Mali eingebrannt. An einem heißen Tag im Jahr 1987 bohrten Arbeiter ein rund 100 Meter tiefes Loch, um Trinkwasser zu gewinnen. Sie staunten, als ihnen statt Wasser eine Art Wind entgegenströmte. Ein Arbeiter lugte hinein, eine Zigarette im Mund. Auf einmal explodierte der Wind in seinem Gesicht. Er kam mit Verbrennungen davon, doch das Bohrloch fing Feuer. Am Tag leuchtete es blau. Nachts schien es golden in der Dunkelheit. Die Bevölkerung fürchtete um ihr Dorf.

Schnell galt das Bohrloch als verflucht. Die Arbeiter schlossen den Brunnen. Erst 20 Jahre später kaufte ein Geschäftsmann aus Mali die Rechte, in der Region nach Bodenschätzen zu suchen. Ein beauftragtes Unternehmen fand heraus, was aus dem mysteriösen Bohrloch strömt: 98 Prozent Wasserstoff. Wenige Monate später versorgte sich das Dorf mit Strom aus einem Generator, der mit dem Wasserstoff aus der Tiefe lief. So schildert die Fachzeitschrift "Science" die Geschehnisse in Mali.

Steigender Bedarf

Bis heute dient der Fund in Mali vielen Forschenden als Beweis, dass in der Erdkruste große Vorkommen an natürlichem, sogenanntem weißem Wasserstoff schlummern – die wirtschaftlich genutzt werden können. Manche preisen Wasserstoff als Wundermittel, das nicht nur die Stahl- und Chemieindustrie, sondern auch Schiffe, Autos und sogar Flugzeuge künftig klimaneutral machen soll. Auch wenn Wasserstoff kein Heilmittel gegen die Klimakrise ist: Der Bedarf an Wasserstoff wird weltweit enorm ansteigen.

Das zeigen auch die Zahlen: Aktuell werden weltweit rund 120 Millionen Tonnen Wasserstoff pro Jahr verbraucht. Bis 2040 könnte der grüne Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien durch Elektrolyse gewonnen wird, knapp bleiben, schätzen Studien. Bis 2050 wird etwa fünfmal so viel Wasserstoff benötigt, wie derzeit hergestellt wird, schätzt die Internationale Energieagentur (IEA). Eine zentrale Frage ist deshalb, aus welchen Quellen der Wasserstoff in Zukunft stammen wird. Einige Fachleute antworten darauf: aus der Erdkruste.

Die Stahlindustrie verursacht viele CO2-Emissionen. Wasserstoff soll künftig helfen, den Sektor zu dekarbonisieren.
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Natürliche Entstehung, flüchtiges Gas

Weißer Wasserstoff entsteht in der Erdkruste durch verschiedene geologische Prozesse. Einer davon ist die Radiolyse. Beim radioaktiven Verfall von Uran, Thorium und Kalium in der Erdkruste kann es durch die Strahlung zu einer Aufspaltung von Tiefenwasser kommen. Dabei kann Helium entstehen, aber auch weißer Wasserstoff. Beispiele für geologische Gesteine, in denen eine natürliche Radiolyse von Wasser auftreten kann, sind etwa Granit, Schiefer und Sandstein.

Der Wasserstoff entsteht aber auch bei der Oxidation von Eisen. "Vereinfacht lässt sich das als Rosten oder Verwitterung von Eisen beschreiben", erklärt Peter Klitzke von der deutschen Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Dieser Prozess wurde bereits in der Tiefsee detektiert, an kleinen Unterwasservulkanen, die sich zumeist am Mittelozeanischen Rücken befinden. An Land tritt Wasserstoff in Gesteinen auf, die Bestandteile alter ozeanischer Kruste sind. Beispiele dafür gibt es auf den Philippinen, im Oman und in Bosnien. Hohe Konzentrationen an Wasserstoff wurden laut Untersuchungen auch in Russland, Finnland, Kanada und Südafrika entdeckt.

Dass an all diesen Orten Wasserstoff entsteht, heißt aber noch nicht, dass er in großen Mengen vorkommt. Diese zu finden ist in der Erdkruste gar nicht so einfach. Tritt Wasserstoff auf natürlichem Weg an die Erdoberfläche, löst er sich in der Atmosphäre schnell auf. Auch auf dem Weg aus der Tiefe hinauf an die Oberfläche kann der Rohstoff verloren gehen. "Mikroorganismen und Minerale nehmen den Wasserstoff auf. Dadurch wird er in der Erdkruste teilweise abgebaut", erklärt Klitzke. Es muss sich also überhaupt erst genug Wasserstoff in der Erdkruste oder an der Oberfläche sammeln, um ihn zu messen oder gar abzubauen. Nötig sind meistens tiefe Bohrungen, um an die Quelle des Wasserstoffs zu gelangen.

Emissionsfrei, günstig, erneuerbar?

Wie Wasserstoff derzeit hergestellt wird, hat einen großen Nachteil: Um den Energieträger herzustellen, muss zuerst Energie investiert werden. Um grünen Wasserstoff zu erzeugen, wird etwa Solar- oder Windstrom eingesetzt. Das Endprodukt ist dann zwar klimafreundlich, aber nicht gerade effizient. Denn die Wasserstoffgewinnung durch Wasserelektrolyse mit erneuerbarem Strom ist stark verlustbehaftet und wirtschaftlich bisher wenig konkurrenzfähig. Nicht umsonst wird Wasserstoff gerne auch als "Champagner der Energiewende" bezeichnet. Außerdem fehlt die grüne Energie dann an anderer Stelle – etwa für E-Autos oder Wärmepumpen.

Aus Solar- und Windstrom lässt sich klimaneutraler, grüner Wasserstoff herstellen. Die Produktion bleibt aber energieintensiv und teuer.
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Mit weißem Wasserstoff ließen sich viele dieser Probleme umgehen, sagen Fachleute. Da der Wasserstoff bereits in der Erdkruste vorhanden ist, muss er nicht energieintensiv hergestellt werden. Klimaschädliche Emissionen entstehen bei der Gewinnung keine, heißt es. Den Wasserstoff aus dem Boden zu holen ist laut Fachleuten zudem deutlich günstiger, als ihn aufwendig mit erneuerbarem Strom herzustellen. Die Kosten für die Gewinnung von weißem Wasserstoff sind Schätzungen zufolge zwei- bis zehnmal niedriger als bei grünem oder blauem Wasserstoff, der aus Erdgas gewonnen wird und bei dem das anfallende CO2 aber weiterverarbeitet oder gespeichert wird.

Von weißem zu orangem Wasserstoff

Einige Fachleute sind sogar überzeugt, dass der weiße Wasserstoff erneuerbar ist. Denn er entstehe immer wieder neu, wenn unterirdisches Wasser mit Eisenmineralien bei hohen Temperaturen und Druck reagiere. Außerdem sei weißer Wasserstoff umweltfreundlicher als Gas oder Öl. Entweiche der weiße Wasserstoff bei der Gewinnung, würde er sich einfach in der Atmosphäre auflösen, der Boden bleibe unbeschädigt.

"Natürlicher Wasserstoff wird von der Erde kostenlos zur Verfügung gestellt. Das Molekül ist reich an Energie, und man kann eine saubere Energie erzeugen, ohne den Boden zu verschmutzen", sagt Eric Gaucher, Geologe an der Universität Bern, im STANDARD-Gespräch. Er beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit weißem Wasserstoff und war früher in der Forschung und Entwicklung beim französischen Unternehmen Total Energies tätig.

Die Forschung denkt sogar schon weiter. Eine Studie in der Fachzeitschrift "Nature" schlägt vor, nicht nur weißen Wasserstoff zu gewinnen, sondern gleichzeitig CO2 im Gestein zu speichern. Kohlenstoffhaltiges Wasser könnte dabei in den Boden injiziert werden. Zusammen mit dem Magnesium im Gestein kann das CO2 eingeschlossen und gespeichert werden. Was entsteht, wird dann oranger Wasserstoff genannt.

Unklare Potenziale

Die Ideen klingen vielversprechend. Doch viele Fragen sind bisher noch offen. Unklar ist etwa, wie viel natürlicher Wasserstoff in der Erdkruste schlummert. Eine Schätzung des U.S. Geological Survey (USGS) geht davon aus, dass genug natürlicher Wasserstoff vorhanden sein könnte, um die wachsende weltweite Nachfrage für Tausende von Jahren zu decken.

Fachleute sehen das aber zu optimistisch. Denn verlässliche, geologische Messungen auf globaler Ebene gibt es bis heute keine. "Es ist schwierig, die zu erwartenden Mengen genau vorherzusagen, denn wir müssen an der richtigen Stelle bohren", sagt Gaucher. "Ohne tiefere Bohrungen kann diese Frage noch nicht vollständig beantwortet werden." Auch Klitzke betont, dass bis jetzt keine großen Ansammlungen von natürlichem Wasserstoff für die kommerzielle Nutzung bekannt sind.

Transport und Risiken werfen Fragen auf

Finden Forschende und Unternehmen ergiebige Quellen, könnte die Gewinnung schnell auf die Beine gestellt werden. Durch die Erdgasförderung weiß man, wie Bohrungen durchzuführen sind und wie das Gas an der Oberfläche gehandhabt werden kann. Benötigt werden jedoch spezielle Materialien, um den Wasserstoff zwischenzuspeichern. Das leichte Gas lässt sich nur schwer in großen Mengen speichern und transportieren. Denkbar wäre auch, das Gas zu verflüssigen – wie es derzeit bereits häufig passiert. Doch dazu muss das Gas auf etwa minus 250 Grad abgekühlt werden, was wieder Energie kostet. Den Wasserstoff in Gasform zu transportieren könnte laut Fachleuten daher effizienter sein.

Ein Tank für flüssigen Wasserstoff. Auch weißer Wasserstoff könnte so transportiert und gelagert werden.
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Obwohl Wasserstoff als sauber gilt, ist er nicht ungefährlich. Wie die Bevölkerung in Bourakébougou es hautnah erlebt hat, ist das Gas leichtentzündlich. Tritt es unkontrolliert aus, besteht Brandgefahr. Bergwerke werden aus diesem Grund stark belüftet, um die Explosionsgefahr durch Wasserstoff zu reduzieren und Bergleute zu schützen. Bei der Gewinnung könnten – je nach Methode – außerdem Chemikalien oder andere Stoffe zum Einsatz kommen, die Auswirkungen auf die Umwelt haben können. Manche Ideen ähneln etwa dem umstrittenen Fracking. So könnten Gesteinsformationen mithilfe von Chemikalien etwa aufgebrochen werden, um den Wasserstoff freizusetzen.

Während seiner Zeit bei Total Energies untersuchte Gaucher, wie hoch das Risiko im Vergleich zur Erdgasgewinnung ist. Sein Fazit: Das Risiko ist bei weißem Wasserstoff geringer. Wasserstoff sei ein so leichtes Molekül, dass bei der Verbrennung von Wasserstoff an einem Bohrloch nur eine dünne Flamme entsteht. Gefahr bestehe nur in unmittelbarer Nähe des Bohrlochs, so Gaucher. Da es bisher kaum Erfahrungswerte gibt, lässt sich bisher jedoch nicht abschließend abschätzen, wie riskant die Gewinnung von natürlichem Wasserstoff ist.

Wirtschaftliches Interesse nimmt zu

Trotz bleibender Unsicherheit lockt die Aussicht auf weißen Wasserstoff viele Unternehmen an. In den USA schloss das Start-up Natural Hydrogen Energy im Bundesstaat Nebraska bereits vor vier Jahren die erste Wasserstoffbohrung auf US-Ebene ab. In Australien planen einige Start-ups Probebohrungen. In Spanien plant das Unternehmen Helios Aragon, testweise in den Pyrenäen nach Wasserstoff zu bohren. Ein Blick auf die geologischen Daten lässt Gaucher vermuten, dass eines Tages auch im Westen Österreichs nach Vorkommen gesucht werden könnte.

Die großen Öl- und Gasunternehmen halten sich bisher noch zurück. Schließlich gibt es noch keinen Markt und damit keine potenziellen Abnehmer. Momentan beobachten sie die Entwicklungen, sagt Gaucher. Sie lassen zunächst die Start-ups laufen, erkunden und Geschäftsmodelle entwickeln. Im Notfall können sie diese einfach aufkaufen, sagt der Geologe.

Wie hoch die Erfolgschancen für den Rohstoff aus der Tiefe sind, kann auch Gaucher nicht einschätzen. Man müsse die Geologie und Geochemie in den Tiefen noch besser verstehen, um zu verstehen, wo genau der Wasserstoff schlummert. Der Experte ist aber überzeugt, dass die Erde eine große Menge an Wasserstoff produziert, die sich wirtschaftlich nutzen lässt. Derzeit entwickelt er eine Methode, mit der Forschende künftig an den richtigen Orten nach natürlichem Wasserstoff suchen könnten. Denn möglich ist, dass Unternehmen schnell das Interesse verlieren, wenn sie ihre Bohrer zu oft an der falschen Stelle ansetzen.

Suche führt zurück nach Afrika

Einige Forschungseinrichtungen, darunter das Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik in Hannover, starteten im Vorjahr das Projekt Hyafrica. Die Forschenden wollen das Vorkommen an natürlichem Wasserstoff in vielversprechenden Regionen bewerten – darunter Marokko, Mosambik, Südafrika und Togo.

Das Projekt könnte Forschenden auch in Zukunft dabei helfen, Vorkommen zu finden. Ziel ist es, besser zu verstehen, "welche Instrumente für eine systematische Erkundung am besten geeignet sind", sagt Rodolfo Christiansen, Geophysiker am Leibniz-Institut, im Gespräch. Finden sie nutzbare Vorkommen, sollen diese für die regionale Energieversorgung nutzbar gemacht werden. Die Forschenden könnten damit fortführen, was vor vielen Jahren in einem Dorf in Mali begann. (Florian Koch, 17.3.2023)