Führungsarbeit ist zu einem Großteil Beziehungsarbeit.

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Alle reden vom Fachkräftemangel, vom Arbeitskräftemangel. Und nun überholt auch noch der Führungskräftemangel. Alle diese Mängel kamen in den letzten Jahren zusammen – und mit langer Ankündigung.

Denn sie sind gut begründet: nicht nur mit Work-Life-Balance-Gassenhauern, sondern mit massiv veränderten Anforderungen von hybrider Arbeit und Digitalisierung einerseits und den Zielkonflikten zwischen gesellschaftlichen und unternehmerischen Belangen andererseits.

Dazu kommt: Unappetitliche Sandwich-Positionen im Mittelmanagement motivieren eher zum Ausstieg als, wie früher, zum Aufstieg. Und es ist auch gut beobachtet: aus eigenen Erlebnissen, Erwartungen und von ihren Eltern, die beim Familienessen vor allem über Führung fluchten – egal in welcher Rolle. Studien kommen meist aus Beratungshäusern und sind so interessiert wie methodisch abenteuerlich – aber im Trend einheitlich auch im internationalen Vergleich der (großen) Resignation. Vor Corona alles angelegt, dann mit Booster weiter gewachsen.

Mehr Empathie

Eine Auswahl: Nur jeder Zehnte in der westlichen Welt will noch Führungskraft werden (Boston Consulting Group (BCG), 2019: Vergleich China, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, USA). 84 Prozent der 20- bis 30-Jährigen sehen ihre Arbeit im Jahr 2030 als ortsunabhängig an. 50 Prozent sehen keinen Bedarf an Firmengebäuden (EY, 2021). 40 Prozent der Führungskräfte wollten in Zukunft noch eine leitende Position übernehmen (BCG, 2020). 43 Prozent der Arbeitnehmenden aus den jüngeren Generationen überlegten, in den kommenden zwei Jahren zu kündigen – für Freelancing. Mehr Freiheit, mehr Balance, mehr Einkünfte (Deloitte, 2019). 92 Prozent aller selbst kündigenden Mitarbeiter würden bei mehr Empathie bleiben (Empathiestudien von Businessolver, 2022).

Die leuchtenden letzten 20 Jahre des Innovations-, Wachstums-, Digitalisierungstheaters – mit Agilität, inklusiver, geteilter und transformatorischer Führung und allem Gerede von Extrameilen, Outperformen und Overdelivern oder Herzblut – haben an Blendkraft verloren. Für Geführte. Und so wurden sie weniger verführbar von Führungskräften. Das sind Gründe für die Diskussion um "Sinn statt Gewinn" und die für manche unverständlichen Purpose-Debatten aus den Teams.

Intensive Beziehungsarbeit

Führungskräfte merkten wiederum die Bedeutung der Kraft, denn Führungsarbeit ist resonante und zeitintensive individualisierende Beziehungsarbeit – mit den Teams. Die Welt und der Wert – für Unternehmen und Kunden – entstehen zwischen den Menschen. Führung ist Kommunikation zwischen Menschen und zwischen Märkten. Und das ist meist ein Vollzeitjob, bei vielen aber eher Teilzeit oder Ehrenamt.

Seit den 1970er-Jahren gibt es intensivere Forschung, was Vorstände wirklich den ganzen Tag so machen. Wenig überraschend: nicht arbeiten, sondern reden – in Meetings.

Die Stockholmer Forscher Ingalill Holmberg und Mats Tyrstrup stellten fest, dass zwei Drittel dieser kommunikativen Führungsarbeit Problembewältigung sind, nur ein Drittel chancenorientiert ist – und davon wiederum nur ein Viertel wirklich angenehm.

Zentral: Führung ist keine Fähigkeit der Führenden, sondern eine Beziehung mit Geführten, also quasi: den Ermächtigenden. Zweifache Erkenntnis: Es braucht mehr Geführtenforschung und mehr Geführten-Kräfte-Entwicklung als Führungs-Kräfte-Entwicklung. Humorvoll übersetzt: Wie kann ich trotz meines Chefs gut arbeiten und ihn dadurch auch methodisch besser machen?

Das Vier-E-Modell aus Geführtensicht

Die Forschung nimmt jetzt erst richtig Fahrt auf. Hierzu habe ich ein erstes Vier-E-Modell der Führung aus Geführtensicht vorgestellt:

  • Empathie Entscheidungsfreudigkeit oder Intellekt sind nicht ausschlaggebend für die Akzeptanz. Brutalistische Agilität auch nicht. Es ist Empathie – auch in einer neuen Vermischung mit dem Privaten, was bei Homeoffices ohne Filter direkt bis in die Kinderbetreuung und Pflegearbeit geht, während sich auch noch Haustiere in die Videokonferenzen einmischen.
  • Entwicklung Die Umstellung von Wissenskulturen als Führungsbegründung (Herrschaftswissen) auf Führungskulturen zur Wissenserlangung (Vermittlungswissen) zeigt: Führung ist Inklusion, Impulsierung und Individualisierung.
  • Erreichbarkeit Führung geht derzeit in drei Dimensionen – Raum, Rituale, Rhythmik – vom Organisationalen direkt ins Private: ins Home office, die Pendlermobilität, die Familienkon texte. Hauptgrund für Krankmeldungen in der Pandemie war gar nicht nur Corona selbst, wie die Universität Konstanz herausfand: Es war Präsentismus, also Erreichbarkeit – egal wo und wann.
  • Effizienz Steigende Komplexität erzwingt kollaborativeres Arbeiten zwischen Unternehmen und auch Abteilungen und Teams. Führungswirksamkeit wird so weniger erwart- und steuerbar bei gleichzeitiger Ergebnisverantwortung, die bleibt. Ein Dilemma, das in Teams besprochen werden muss.

Das Drei-W-Modell zur Lösung

  • Weiterbildung Es braucht Weiterbildung nicht nur der Führungskräfte. Wenn Führung keine Fähigkeit ist, sondern eine Beziehung, dann läuft das wie Paartherapie: Man macht es zu sammen. Die beiden Wissenschafterinnen Fabiola Gerpott und Anna van der Velde haben einen führungspsychologischen Ansatz in der Entwicklung: Fokus auf Weiterbildung für Geführte im Führungsprozess. Kein Business-School-Seminar zu Führungsstilen und deren Erfolg, sondern Schulungen der Geführten direkt am Arbeitsplatz, z. B. durch Mini-Interventionen und Mikro-Coachings. Das Ziel: Ermutigung zu Hinweisen, wie Führungskräfte integrativer führen können.
  • Weibliche Führung Die naheliegende Hoffnung, dass die Frauen es nun lösen, braucht Realismus. Das österreichische Institut für Jugendkulturforschung zeigte klar: Junge Frauen erwarten signifikant mehr als Männer eine gute Bezahlung, ein gutes Arbeitsklima, einen sicheren Arbeitsplatz und genügend Freizeit. So nachvollziehbar – wie oft unwahrscheinlich.
  • Wertschätzung und wertschätzende Führung Führung bedeutet Kraft für das Zentrum: Gesprächsführung. Und das sind keine Prompts für ChatGPT.

Führung ist nicht zusätzlich zur Arbeit, sie ist Arbeit. Beziehungsarbeit. Und wertschätzende Beziehungsarbeit brauchen beide – Führende wie Geführte. Daher am besten mehr Diversität in Teams, dann wird es auffälliger, dass wirklich nichts mehr selbstverständlich ist und wir uns um ein gemeinsames Verständnis bemühen. Weniger komplex wird es nicht mehr. (Stephan A. Jansen, 20.3.2023)