Thomas Seifert und Judith Belfkih führen die Redaktion der "Wiener Zeitung".

Foto: Christoph Liebentritt / buero butter

Wien – Nach 320 Jahren könnte Schluss sein: Die "Wiener Zeitung" soll künftig als Onlinemedium erscheinen, das nach "Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel auch in Print herauszugeben" ist. So steht es im Gesetzesentwurf, der in den nächsten Wochen im Parlament beschlossen werden könnte. Im Raum stehen zehn Printausgaben pro Jahr. Das Gesetz soll am 1. Juli 2023 in Kraft treten.

Die Umbaupläne der schwarz-grünen Regierung stoßen auf massive Kritik. Sie hätten einen personellen Kahlschlag in der Redaktion zur Folge, lautet die Befürchtung. Die "Wiener Zeitung" beschäftigt rund 40 Journalistinnen und Journalisten und gilt als Garantin für Qualitätsjournalismus. Die durchschnittliche Auflage beträgt unter der Woche 14.250 Exemplare, am Wochenende sind es knapp 39.000. Die Chefredaktion bilden derzeit Thomas Seifert und Judith Belfkih. Sie waren zuvor Stellvertreter von Walter Hämmerle, der als Chefredakteur nicht mehr zur Verfügung stand.

Die Kritikerinnen und Kritiker stoßen sich neben dem Aus als Tageszeitung auch an der Errichtung eines Media-Hubs, wo mit einem Budget von sechs Millionen Euro Journalistinnen und Journalisten ausgebildet werden sollen – auch in PR-Arbeit.

STANDARD: In den letzten Monaten sind zahlreiche Initiativen und Petitionen zur Rettung der "Wiener Zeitung" entstanden. Glauben Sie noch daran, dass sie künftig täglich in Printform erscheinen wird?

Belfkih: Solange die "Wiener Zeitung" im Druck erscheint, werden wir uns dafür einsetzen, dass es unter der Marke "Wiener Zeitung" weiterhin Qualitätsjournalismus – auch in Printform – gibt. Ob uns das gelingt, kann ich nicht sagen. Noch ist das Gesetz nicht beschlossen.

Seifert: Unser Argument war immer: Solange zum Beispiel auch DER STANDARD in Printform erscheint, der online ein ganz anderes Kaliber ist als wir, würde man auch sagen: Warum entscheidet die Geschäftsführung, den STANDARD weiter in Printform zu betreiben? Weil man weiß, dass es eine wichtige Zielgruppe ist, die mit Print erreichbar ist. Vom Kaffeehaus bis zu Abonnenten, die das gerne in dieser Form konsumieren. Eine Zeitung in der Hand ist eine Zeitung in der Hand. Das gehört für viele Menschen zum Frühstücksritual dazu.

Belfkih: Dass sich die Zukunft des Journalismus ins Digitale verlagert, ist unumstritten. Die Frage ist nur, wie man diese Transformation gestaltet. Print ist noch nicht tot. Es gibt noch genügend Menschen, die eine Tageszeitung gedruckt lesen. Solange das so ist, wünsche ich mir Überlegungen, wie man das strategisch aufstellt. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass es eine Nachdenkzeit gibt. Wie kann man diese Transformation homogener und organischer gestalten?

STANDARD: Wie lange soll die Nachdenkzeit dauern?

Belfkih: Wir haben uns 18 Monate vorgestellt und würden gerne Vorschläge, die auf dem Tisch lagen, mit Expertinnen und Experten aus der Medienbranche prüfen.

STANDARD: Gibt es Signale aus der ÖVP oder bei den Grünen, dass das Gesetz verschoben wird? Im April könnte es ernst im Parlament werden.

Seifert: Das ist schwer zu beurteilen. Rein gefühlsmäßig ist der Eindruck entstanden, dass es bei den Grünen mehr Bereitschaft gibt als bei der Medienministerin. Bei den Grünen stoßen wir eher noch auf offene Ohren.

Belfkih: Was die offiziellen Stellungnahmen betrifft, schaut es nicht danach aus. Sowohl die Ministerin als auch Eva Blimlinger, Mediensprecherin der Grünen, stehen hinter dem Gesetzesentwurf. Wie der dann final eingebracht wird, weiß ich nicht. Die Begutachtung ist abgeschlossen, an einem finalen Gesetz wird offenbar gearbeitet.

Seifert: Der Begutachtungsprozess war ja desaströs für die Autorinnen und Autoren des Entwurfs. Hochrangige Expertinnen und Experten haben heftige Kritik geübt und massive Bedenken geäußert. Wir beobachten sehr genau, wie sich das niederschlägt. Das Begutachtungsverfahren hat ja den Sinn, die Qualität der Gesetzgebung zu verbessern. Wenn die eingereichten Kommentare und Anmerkungen in den Wind geschlagen werden – da reden wir vom Presseclub Concordia über Ministerien bis zu Landesregierungen – wäre das fatal.

STANDARD: Medienministerin Susanne Raab geht medial auf Tauchstation. Wie läuft der Prozess mit ihr ab? Hat es Gespräche mit ihr gegeben?

Seifert: Mit ihr persönlich nicht, sondern nur mit einem Mitarbeiter. Das Ministerium ist ausgedünnt, es gab ja einen regelrechten Exodus von Medienexperten und Medienexpertinnen aus dem Ministerium.

Belfkih: Wir beide haben mit ihr persönlich keinen Kontakt. Wir haben um einen Termin bei ihr angefragt, aber keinen bekommen.

Seifert: Ministerin Raab hat sich in der Causa "Wiener Zeitung" nie einer Diskussion gestellt, obwohl sie zum Beispiel vom Presseclub Concordia eingeladen wurde.

"Formulieren wir es freundlich: Die Ministerin scheint nicht gerne im Rampenlicht zu stehen."

STANDARD: Was glauben Sie, warum?

Seifert: Formulieren wir es freundlich: Die Ministerin scheint nicht gerne im Rampenlicht zu stehen. Das ist auch in der ORF-Diskussion zu beobachten. Andere Ministerien scheuen einen Dialog nicht – es gehört schließlich zur Aufgabe von Ministerinnen und Ministern, mit den Stakeholdern in Kontakt zu stehen. Freilich, Susanne Raab hat die Medienpolitik geerbt. Die Pläne, die jetzt umgesetzt werden, wurden – so sieht es heute aus – unter Türkis-Blau, Gernot Blümel und Gerald Fleischmann ausgearbeitet. Eine grüne Handschrift ist nicht wirklich erkennbar. Und dass man als Journalist ein gerütteltes Maß an Misstrauen gegenüber einem Medienpolitiker, der ein Buch über Message-Control schreibt, hat, ist nicht weiter verwunderlich. Der Verdacht liegt nahe, dass manche Sebastian-Kurz-Jünger neidisch auf Viktor Orbáns Medienpolitik geblickt haben.

STANDARD: So eine Sicht auf die Medien verträgt sich nicht gut mit Qualitätsjournalismus?

Seifert: Medien haben eine Watchdog-Funktion. Gegenüber den Institutionen und Funktionsträgern der Republik, aber auch gegenüber Managern der Wirtschaft. Medien haben als vierte Macht eine wichtige Funktion als Immunsystem der Demokratie – diese Rolle sollte die Politik würdigen. So wie die Republik eine akribisch ermittelnde Staatsanwaltschaft und eine funktionierende Justiz braucht, braucht es auch kritische Medien. Zudem: Der Rechnungshof ist vielleicht manchmal nervig für die Regierenden, genauso wie die Volksanwaltschaft den Behörden manchmal am Geist geht. Aber die einen pflegen das Recht, die anderen vertreten die Interessen jener Bürger, die sich von Behörden ungerecht behandelt fühlen. Macht braucht Kontrolle.

Belfkih: Das Ziel unseres Journalismus war und ist es, ein sehr breites Meinungsspektrum abzubilden. Die "Wiener Zeitung" ist kein Medium, das sich politisch einordnen lässt. Wir sind weder ein linkes noch ein konservatives Blatt. Es war uns immer sehr wichtig, beide Seiten zu betrachten, egal was zuerst im Raum gestanden ist. Wir haben als Zeitung der Republik die Verantwortung, Äquidistanz zu allen Parteien zu wahren. So steht es auch in unserem Statut. Das macht die Position auf dem Markt schwieriger, weil wir zum Beispiel aus Leserbefragungen wissen, dass sich viele Menschen gerne bei der Lektüre ihres Mediums in ihrer eigenen Meinung bestätigt fühlen wollen. Andere Tageszeitungen positionieren sich politisch, wo sie aufgrund ihrer Blattlinie stehen. Die "Wiener Zeitung" tut das nicht.

"Wir als Gesellschaft haben verlernt, mit anderen Meinungen zu leben und sie als eine Wirklichkeit zu akzeptieren."

STANDARD: Absichtlich?

Belfkih: Ja, wenn man die "Wiener Zeitung" liest, muss man damit leben, dass man einmal in der Woche einen Kommentar eines oder einer Abgeordneten liest und infolgedessen alle fünf Wochen etwa auch ein Kommentar von Abgeordneten Herbert Kickl erscheint. Wir als Gesellschaft haben verlernt, mit anderen Meinungen zu leben und sie als eine Wirklichkeit zu akzeptieren. Das mag nicht leserfreundlich im Sinne einer Wohlfühlblase oder der Echokammer sein, wir sehen das aber als unsere Aufgabe. Das ist eine bewusste Entscheidung.

"Ausgedruckt": Das Titelblatt der "Wiener Zeitung" vom 6. Oktober 2022.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

STANDARD: Im Gegensatz zu Medienministerin Susanne Raab steht Eva Blimlinger, Mediensprecherin der Grünen, lieber im Rampenlicht und stellt sich wenigstens der Diskussion.

Seifert: Bei allen inhaltlichen Auseinandersetzungen, die wir hatten, muss man sagen, dass das sehr positiv ist. Sie hat sich nie der Diskussion verweigert. Termine bekommen wir bei ihr jederzeit.

Belfkih: Es ist klar, dass wir inhaltlich andere Vorstellungen haben, aber sie hat sich zumindest die Zeit genommen, um sich unsere Vorschläge und Bedenken anzuhören.

STANDARD: Mit mäßigem Erfolg?

Seifert: Unser Problem ist und war, dass die Politik hauptsächlich mit der Geschäftsführung der "Wiener Zeitung" spricht und nicht mit der Redaktion. Denn da gibt es Interessensunterschiede. Das wäre beim STANDARD auch so. Nur: Ein funktionierendes Medienhaus erkennt man daran, dass beide Teile des Unternehmens eng zusammenarbeiten.

Belfkih: Das erfüllt uns beide mit Bedauern. In den letzten Jahren ist es nicht gelungen, ganz neutral gesagt, dass die Geschäftsführung und die Redaktion gemeinsam einen Transformationsprozess aufsetzen. Das ist einfach so.

"Wir kommen nun als Journalisten ungebeten in die Lage, dass wir als Lobbyisten auftreten müssen, was – ehrlich gesagt – mit unserer Rolle als Journalisten kollidiert."

STANDARD: Geschäftsführer Martin Fleischhacker macht das in Eigenregie ohne Einbeziehung der Redaktion?

Belfkih: Wir beide waren zu diesem Zeitpunkt nicht in Verantwortung. Im Nachhinein nach Schuldigen zu suchen ist müßig. Jetzt gibt es eine Arbeitsgruppe, die an einem neuen Medium arbeitet, das den im Raum stehenden Gesetzesauftrag erfüllen könnte. Dort sind Kolleginnen und Kollegen der Redaktion vertreten.

Seifert: Es ist ja noch nicht ganz klar, wohin die Reise geht. Erst wenn ein Gesetz durch das Parlament geht und vom Bundespräsidenten paraphiert wird, ist es beschlossen. Wir kommen nun als Journalisten ungebeten in die Lage, dass wir als Lobbyisten auftreten müssen, was – ehrlich gesagt – mit unserer Rolle als Journalisten kollidiert. Wir haben da auch Hemmungen und sind unglücklich, uns in dieser Rolle wiederzufinden. Welcher Journalist spaziert gerne in Ministerbüros …

Belfkih: … um die Zukunft des eigenen Hauses zu diskutieren.

Seifert: Aber was bleibt uns sonst?

STANDARD: Warum also lobbyieren Sie?

Seifert: Weil ich tief in meiner Herzwurzel davon überzeugt bin, dass die Causa "Wiener Zeitung" eine ist, die für den Journalismus insgesamt von Bedeutung ist. Welchen Qualitätsjournalismus wollen wir in Österreich haben? Nur ein Gedanke: Wenn man da einen Baustein rauszieht – und es ist schon klar, dass wir nicht DER STANDARD oder die "Presse" sind, aber ein kleiner, feiner Player – dann wird das ganze Haus instabiler. Wie viele Talente von der "Wiener Zeitung" sind etwa beim STANDARD oder beim "Profil" gelandet? Plus: Wir sind davon überzeugt, dass es uns immer wieder gelingt, Inhalte zu liefern, die in anderen Redaktionen beachtet und in der Öffentlichkeit als wichtiger Debattenbeitrag wahrgenommen werden. Vielleicht nicht zuletzt, weil wir den Luxus genießen, nicht so hart im Markt zu stehen.

"Stellen wir doch mal die Unis voll in den Markt und schauen wir, was passiert! Wollen wir das?"

STANDARD: Welcher Luxus ist gemeint?

Seifert: Ich denke da an die Feuilleton-Beilage "Extra". Wir sind damit nicht die Klickkaiser, aber es sind Dinge, die für die Kultur des Landes von Bedeutung sind. Wir beschäftigen uns mit Gesetzesmaterien, die in der Öffentlichkeit weniger Beachtung finden. Ich denke da an die Frage des assistierten Suizids, wo wir viel Aufwand betrieben haben, eben weil das ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema ist. Wenn wir über das Budget berichten: Solche Stories sind nicht welche, auf deren Links die Leserinnen und Leser wie wild draufklicken – aber letztlich geht es um unser aller Geld. Darüber gehört ordentlich und extensiv berichtet, auch wenn es für einen Teil des Publikums fad ist.

Was uns immer wieder vorgeworfen wurde: dass wir dem Markt entzogen sind. Meine Antwort darauf lautet: Stellen wir doch mal die Unis voll in den Markt und schauen wir, was passiert! Wollen wir das? Wollen wir eine Situation wie in den USA, wo die Studentinnen und Studenten tausende Euro pro Semester zahlen? Ich glaube nicht. Oder: Wie halten wir es mit dem Burgtheater? Wer käme auf die Idee, das Burgtheater marktgerecht streamlinen zu wollen?

Belfkih: Was ich hätte mir in dieser ganzen Debatte gewünscht hätte: In welche Zeit fällt diese Finanzierungsfrage der "Wiener Zeitung"? Oder auch jene des ORF? Inseratenaffären poppen auf, die Nähe zwischen Politik und Medien wird diskutiert, Chatprotokolle spielen eine Rolle. Diese Phase hätte sich angeboten, um über die prinzipielle Finanzierung von Medien nachzudenken. Dass solche Chats Chefredakteuren und Politikern passieren, hat nicht ausschließlich mit Charakterzügen der handelnden Akteure zu tun, sondern damit, wie Medien in Österreich finanziert werden. Man hätte die Diskussion über die "Wiener Zeitung" auch als Anlass nehmen können, im großen Stil über die Finanzierung von Journalismus nachzudenken.

STANDARD: Wie zum Beispiel?

Belfkih: Es gibt mit der Digitalmedienförderung zwar einen neuen Topf, das ist wunderbar, man hätte aber auch das Inseratenvolumen an Qualitätskriterien koppeln können. Mindestforderung: Mitgliedschaft im Presserat, Redaktionsstatut. Da hätte es viele Möglichkeiten gegeben. Jenseits der Frage, ob es die "Wiener Zeitung" weitergeben soll, finde ich das gesellschaftspolitisch bedenklich, dass es nicht gelungen ist, die Debatte auf dieses Niveau zu heben. Nur eine funktionierende Medienbrache garantiert, dass demokratiepolitische Prozesse weiterhin funktionieren. Dass die Politik einen Gegenpol, eine kritische Beleuchtung hat. Das ist heute noch relevanter als vor zehn Jahren, als es soziale Medien und Fake News noch nicht in diesem Ausmaß gab.

"Das Geld, das die "Wiener Zeitung" aktuell oder künftig erhält, würde bei ihrem Ende ja kaum einfach an andere Medienhäuser fließen."

STANDARD: Zur Entflechtung zwischen Medien und Politik hätte auch gehören können, dass man die "Wiener Zeitung" aus dem Kanzleramt herauslöst?

Belfkih: Dieser Diskussion kann man sich stellen: Muss die Republik eine Zeitung besitzen und wenn ja, welche Aufgaben kann sie ihr sinnvoll zuweisen, ohne sich den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, dass ein Mitbewerber das einfach bezahlt bekommt, was sich andere auf dem freien Markt holen müssen. Eigentümerin und Herausgeberin der "Wiener Zeitung" ist die Republik, nicht alleine das Kanzleramt. Man hätte das mit Medienwissenschaftern und Expertinnen diskutieren können. Was kommt dem Gemeinwohl am meisten zugute? Diese Debatte hätten wir uns gewünscht.

Seifert: Wir sind – so wie das Naturhistorische und Kunsthistorische Museum, die Staatsoper oder das Burgtheater – ein Erbe der Monarchie. Die "Wiener Zeitung" wurde von einem privaten Verleger gegründet, dann im Jahr 1857 verstaatlicht, um staatliche Kontrolle über sie zu erlangen. Die Republik hat diese Zeitung 1918 von den Habsburgern geerbt. Für mich stellt sich die Frage, welche Verantwortung man hat, wenn man ein Erbe bekommt. Wenn mir die Uhr meines Opas vererbt wird, und ich sie am nächsten Tag auf Ebay oder Willhaben.at stelle, wäre meine Mutter not amused. Geht man so mit dem eigenen Erbe um? Die Frage lautet nun: Welche Richtung soll die "Wiener Zeitung" nehmen? Könnte es über ein Stiftungsmodell funktionieren?

Die Information über das Budgetgebaren oder über sperrige außenpolitische Themen, die nicht Twitter- oder Sager-fähig sind: Das sind Dinge, die man in der "Wiener Zeitung" findet. Österreichs Medienlandschaft darf nicht enden wie in Italien, wo längst debattenfreie Räume entstanden sind. Auch in Österreich erleben wir in der Politik eine Verflachung der Debatte. Das hat auch mit dem medialen Umfeld zu tun.

Belfkih: Was ich erfreulich und berührend fand, ist, dass wir aus anderen Redaktionen eine große Solidarität erfahren haben, die den Qualitätsjournalismus vor Augen haben und nicht, dass es einen Konkurrenten weniger geben könnte. Das Geld, das die "Wiener Zeitung" aktuell oder künftig erhält, würde bei ihrem Ende ja kaum einfach an andere Medienhäuser fließen. Die Branche hat verstanden, dass es um Qualitätsjournalismus insgesamt geht und darum, wie die Politik gedenkt, ihn abzusichern. Da hatten wir eine Symbolwirkung für andere Medienhäuser.

STANDARD: Weil von komplexeren Themen und in die Tiefe gehen die Rede war: Warum lässt sich dieser Journalismus nicht darstellen, wenn die "Wiener Zeitung" nicht mehr täglich in gedruckter Form erscheint?

Belfkih: Das ist nicht die These. Es geht um eine organisch sinnvolle Weiterentwicklung eines Unternehmens, das schon so lange existiert, und nicht um einen Bruch. Das ist meine Kritik. Selbstverständlich ist es möglich, längere, komplexe Texte digital zu schreiben. Wir erscheinen jetzt auch nicht Print only. Derzeit sieht es nicht nach einer Weiterentwicklung, sondern einer digitalen Neugründung aus.

Seifert: Die Internet-Geschäftslogik der Gegenwart handelt von Conversion-Rates. Wie schaffe ich es, Geschichten unter die Menschen zu bringen, damit sie das Medienprodukt abonnieren? Es geht aber auch um Klickraten, um Verweildauer. Sind das die richtigen Kriterien für verantwortungsvollen Journalismus? Natürlich: Wir wollen nicht Erziehungsberechtigte unserer Leserinnen und Leser sein. Nur: Was müssen die Menschen aus unserer Sicht wissen? Welche Informationen benötigt das Publikum als Grundausstattung einer demokratischen Infrastruktur? Unabhängig davon, ob eine Story ein Klickstar wird, ob eine Story auf Twitter oder auf Tiktok gut performt oder nicht.

Die Wählerinnen und Wähler müssen in einer Demokratie verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können. Wenn das nicht gegeben ist, kann Demokratie nicht mehr funktionieren. Dieser Rolle wird die "Wiener Zeitung" sehr gut gerecht, weil sie diese DNA staatsbürgerlicher Verantwortung in sich trägt. Da stellt sich die Frage: Ist ein Interview mit Richard Lugner – wir hatten übrigens eines im Blatt, das ist auch im Internet durch die Decke gegangen – demokratiepolitisch relevant?

"Wollen wir eine Donald-Trump- oder Silvio-Berlusconi-Welt samt Tiktok, wo wir alle in Gefahr einer ADHS-Diagnose kommen und nur noch 20 Sekunden Info-Häppchen wollen? Ich sage: nein."

STANDARD: Kommt wahrscheinlich darauf an …

Seifert: Na ja, unterhaltsam und lesenswert war es allemal, aber von überschaubarer demokratiepolitischer Bedeutung, finde ich. Unsere Geschichte über die Initiative bessere Verwaltung, die wir ungefähr zur selben Zeit hatten, wurde weniger geklickt als das Lugner-Interview, aber ist es deshalb weniger wichtig? In diesem Spannungsfeld stehen auch andere Qualitätsmedien. In dieser Debatte kann die "Wiener Zeitung" ein guter Stein des Anstoßes sein. Wollen wir eine Donald-Trump- oder Silvio-Berlusconi-Welt samt Tiktok, wo wir alle in Gefahr einer ADHS-Diagnose kommen und nur noch 20 Sekunden Info-Häppchen wollen? Ich sage: nein. Darüber kann man mit der "Wiener Zeitung" als eine Art medienpolitischem Stolperstein nachdenken. Diese Chance sollte man nicht verpassen.

Belfkih: Welche Aufgabe hat die "Wiener Zeitung" für den Medienstandort Österreich? Ausbildung an sich ist keine schlechte Idee. Nur muss man sich ansehen, wie man das strukturell absichert, indem man gegenüber der Politik einen sicheren Schutzschirm aufspannt. Es sind auch sinnvolle Ideen in dem Gesetzesentwurf, die ausbaufähig sind. Aber: Man kann natürlich darüber reden, ob es einen öffentlichen Auftrag braucht, um Menschen in Content-Produktion auszubilden. Das wurde sehr stark kritisiert. Wir beide sagen nicht: Print forever. Es geht aber darum, wie man das macht. Nämlich als Weiterentwicklung und nicht als harten Cut. Danach sieht es momentan aus.

Seifert: Genau das ist diese unfaire Verkürzung und Zuschreibung: "Die bei der Wiener Zeitung sind die Printdinosaurier." Das ist aber inkorrekt. Unsere Befürchtung ist vielmehr, dass ein gewisser Geist, ein gewisser Spirit ersetzt werden soll. Dieser Geist weht bei der "Wiener Zeitung" seit fast 320 Jahren – der wäre dann weg. Ich persönlich bin Plattformagnostiker und heavy User der digitalen Plattformen. Ich warte nicht darauf, dass mir jemand Print vor die Füße knallt wie Tontafeln, die vom Berg Ararat fallen. Überhaupt nicht. Und trotzdem: Print ist Teil dieses Plattformmixes. Da wollen wir auch noch weiterhin mitspielen.

STANDARD: Gab es in den vergangenen Jahren viele Versuche der Politik, die Berichterstattung zu steuern?

Belfkih: Ich habe auch in anderen Medien gearbeitet und muss sagen: Ich habe nirgends das Eigentümerinteresse weniger gespürt als in der "Wiener Zeitung". Politische Interventionen sind zumindest bei mir nicht vorgekommen.

STANDARD: Weder unter SPÖ-Kanzlern noch unter der ÖVP?

Belfkih: Bei mir persönlich nicht. Ich habe 2010 als Feuilleton-Chefin gestartet und bin seit 2018 in der Chefredaktion.

Seifert: Ich bin seit 2012 in der Chefredaktion und kann das nur unterstreichen. Das gab es nicht. Vielleicht vor unserer Zeit mit den Bestellungen bei den Chefredakteuren, die ein Politikum waren. Bei Andreas Unterberger etwa. Der Chefredakteur ist in Abstimmung mit der Eigentümervertretung zu bestellen. Walter Hämmerle war Chefredakteur-Stellvertreter und ist auf Reinhard Göweil nachgefolgt. Eine lupenreine Bestellung.

Belfkih: Und er wurde auch von den Bundeskanzlern beider Couleur verlängert.

Seifert: Wir waren niemandem etwas schuldig, das hat sich auch in den vergangenen zwei Jahren gezeigt. Walter Hämmerle hat sehr selbstbewusst und mit Verve und Leidenschaft für die "Wiener Zeitung" gekämpft. Ich kann mir vorstellen, dass die Kommunikation mit der Medienministerin nicht immer friktionsfrei war, als es noch eine gab. Er war geradlinig und unbeeindruckt von irgendwelchen Interessen.

"Es braucht mehr kritische Journalistinnen und Journalisten. Dass man Content Production kennenlernt und schaut, was die machen, ok, aber Menschen mit Steuergeldern in PR-Arbeit auszubilden, sehe ich nicht als staatlichen Auftrag."

STANDARD: Ein großer Kritikpunkt am Gesetzesentwurf ist auch der Media Hub und die dort angesiedelte Journalistenausbildung, die mit sechs Millionen Euro jährlich dotiert ist. Kritiker und Expertinnen sprechen von einer Verstaatlichung der Journalismusausbildung und monieren, dass gleichzeitig PR unterrichtet wird. Wie sehen Sie das?

Belfkih: Gegen eine sinnvoll aufgesetzte Journalistenausbildung ist nichts zu sagen. Wir bilden seit Jahren Journalistinnen und Journalisten aus. Sei es in unseren Ausbildungsprogrammen oder weil Junge bei uns anfangen und dann in andere Redaktionen weiterziehen. Die Kolleginnen und Kollegen werden von uns abgeworben. Das erfüllt uns seit Jahren mit Freude und mit Stolz. Es geht darum, wie diese Ausbildung aufgestellt ist, wer das Curriculum verantwortet und wie Unabhängigkeit gewährleistet werden kann. Es braucht mehr kritische Journalistinnen und Journalisten. Dass man Content Production kennenlernt und schaut, was die machen, ok, aber Menschen mit Steuergeldern in PR-Arbeit auszubilden, sehe ich nicht als staatlichen Auftrag.

Seifert: Ich hätte mir beim Aufsetzen der Strukturen eine Zusammenarbeit gewünscht. Wer, wenn nicht wir Journalistinnen und Journalisten, sollten das machen? Input war aber keiner erwünscht, wir waren informiert, aber nicht involviert. Da fehlen mir auch Dinge wie wissenschaftliche Begleitforschung. Die Frage ist, ob die "Wiener Zeitung" einen Mehrwert erbringen kann, wenn man das ausweitet. Es gibt in Wien ja Institutionen, die Journalisten ausbilden. Ist es nicht sinnvoller, die Mittel anders einzusetzen?

"Man könnte sich überlegen: Wie kann das die Zeitung der Republik, auch in Kooperation mit anderen Medien, sinnvoll übernehmen, junge Menschen auf qualitätsjournalistisches Arbeiten in der Praxis vorzubereiten."

STANDARD: Wo?

Seifert: Eine Redaktion betreibt im weitesten Sinne Forschung. Wir recherchieren Geschichten, sind vor Ort – etwa in der Ukraine, wir gehen auf Krankenhausstationen während Corona und so weiter. Das ist Forschung. Lehre ist wiederum eine andere Geschichte. Natürlich: Forschung und Lehre muss man sinnvoll verknüpfen. Darum ist eine Lehrredaktion, wie wir sie seit Jahren haben, eine tolle Sache. Leider kommt in allen Redaktionen die Lehre zu kurz. Den erfahrenen Profis, die sich um den jungen Nachwuchs kümmern konnten, mangelt es aufgrund des Zeitdrucks an Gelegenheiten, ihr Wissen weiterzugeben. Meine Haupt-Forderung an die Politik lautet: Mehr Geld in die journalistische Forschung zu investieren, mehr Möglichkeiten für den journalistischen Nachwuchs, eigene Erfahrungen zu machen.

Belfkih: Das sehe ich auch als generelles Problem in der Journalismusausbildung. Als wir beide Journalisten wurden, gab es noch keine Fachhochschulen wie heute. Ich habe es gelernt, indem ich Texte geschrieben habe, die von einem Redakteur, einer Redakteurin mit mir besprochen wurden.

Seifert: Journalismus war im besten Sinne ein Lehrberuf.

Belfkih: Junge Menschen, die heute von Fachhochschulen kommen, haben zwar das theoretische Rüstzeug, waren aber viel zu wenig im Labor, um bei Begriffen aus der Forschung zu bleiben. So eine Betreuung ist enorm ressourcenaufwändig, diese jungen Menschen in der Praxis zu begleiten. Da gibt es eine Lücke in der Journalismusausbildung, das würde in der Branche fast jeder unterschreiben. Man könnte sich überlegen: Wie kann das die Zeitung der Republik, auch in Kooperation mit anderen Medien, sinnvoll übernehmen, junge Menschen auf qualitätsjournalistisches Arbeiten in der Praxis vorzubereiten. Dafür hätte ich eine Legitimität gesehen.

STANDARD: Und das angedachte Modell geht in die falsche Richtung?

Belfkih: Ich glaube nicht, dass aktuell das Bundeskanzleramt sagt, was in der Ausbildung gelehrt werden soll. Wenn wir daran Kritik üben, geht es weniger um aktuell involvierte Personen. Ein Gesetz muss aber Eventualitäten, politische Machtwechsel und potenzielle Übergriffe berücksichtigen. Was ist als Worst Case möglich, wenn das jemand im schlechtesten Sinne interpretiert? Interpretiert man das Gesetz im besten Sinne, kann das eine völlig unabhängige, tadellose Ausbildung sein. Aber ein Gesetz soll ja nicht nur bei Schönwetter funktionieren.

STANDARD: Wenn zum Beispiel die FPÖ an die Macht kommt: Besteht die Gefahr der Instrumentalisierung?

Seifert: Es muss vor Instrumentalisierung geschützt sein. Bei Unis gibt es den Unirat. Man hat darauf geachtet, dass dort eine Isolierschicht eingezogen ist und nicht der Wissenschaftsminister anrufen kann und sich wünschen kann, was gelehrt wird. Mein Kernargument lautet aber: Die Balance zwischen Forschung und Lehre muss gewahrt bleiben. Wir brauchen das Labor dringender als den Lehrsaal. Ein weiteres Argument: Der Zugang zum Beruf. Welche Personengruppen wollen wir denn im Journalismus? Ist es heute noch möglich – wie es früher der Fall war – dass Taxifahrer Journalisten werden können? Das ist kaum mehr der Fall.

Belfkih: Es gibt immer weniger Quereinsteiger, die Fachwissen mitbringen. Ich bin wegen meiner Fachkompetenz Journalistin geworden und nicht wegen meiner Journalismusausbildung. Sehr viele kamen früher mit einem Inhalt, und sie wollten diesen Inhalt in den Journalismus bringen. Ich beobachte, dass sehr viele Kolleginnen und Kollegen jetzt mit Journalismus kommen und sich erst im Nachhinein einen Inhalt suchen. Das ist auch der Ausbildungssituation geschuldet.

"Es gibt irrsinnig viele sinnvolle Ideen, was die "Wiener Zeitung" als Zeitung der Republik leisten kann. Die Grundbedingung ist, dass es Qualitätsjournalismus sein muss. Der ist nicht Kanal-orientiert, sondern Inhalte-orientiert."

STANDARD: Welche Rolle könnte hier die "Wiener Zeitung" einnehmen?

Seifert: Es gibt eine Bandbreite an journalistischen Erzählformaten. Die Geschichte, die Story sollte im Vordergrund und weniger die unterschiedlichen Plattformen. Man könnte der "Wiener Zeitung" diese Laborfunktion zugestehen und sie zum Experimentierfeld machen. Dort dürfte auch einmal etwas schief gehen, weil man diese Experimente auf kleinerem Maßstab wagen könnte. Plus: Das Open Source-Prinzip würde dafür sorgen, dass andere jene Tools, die bei der "Wiener Zeitung" entwickelt werden, für eigene Projekte nutzen könnten.

Belfkih: Es gibt irrsinnig viele sinnvolle Ideen, was die "Wiener Zeitung" als Zeitung der Republik leisten kann. Die Grundbedingung ist, dass es Qualitätsjournalismus sein muss. Der ist nicht Kanal-orientiert, sondern Inhalte-orientiert. Im Feuilleton ist es zum Beispiel die Art und Weise, der Welt zu begegnen. Dinge zu hinterfragen, sie von mehreren Seiten zu betrachten. Nach dem Warum zu fragen, sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben, Quellen zu überprüfen, Komplexität aufzuwerfen. Diese Grundhaltung, dieser Geist des Qualitätsjournalismus muss die Kernkompetenz sein. Die Vermutung liegt aber nahe, dass das nicht im Zentrum der Regierungspläne steht.

Seifert: Wenn die Republik der Meinung ist, die "Wiener Zeitung" passt nicht ins Portfolio, dann müssen die Entscheidungsträger den nächsten Schritt wagen. Leider denkt die Republik im Traum nicht daran, zu sagen: Wenn wir die "Wiener Zeitung" nicht mehr wollen, dann lass uns doch darüber nachdenken, ob wir diesen Titel nicht verkaufen können. Oder man könnte über die Eigentümer-Struktur nachdenken. Wäre eine Genossenschaft ein tragfähiges Konstrukt? Oder ein Stiftungsmodell? Ich hätte mir erwartet, dass man darüber redet.

STANDARD: Etwa über einen Verkauf oder eine neue Eigentümerstruktur?

Seifert: Wir hören dann immer aus der Politik, dass es nicht funktioniert. Damit es funktionieren kann, muss man es probieren. Dann müssen potenzielle Investoren die Zahlen kennen und es muss einen gemeinsamen Prozess – wie bei jeder Übernahme – geben, in dem die Geschäftsführung das einem neuen Eigentümer übergibt. Alle Zahlen und Unternehmensdaten müssen transparent auf den Tisch, die Strategie muss mit einem neuen Eigentümer auf den Weg gebracht werden. Da taucht dann wohl auch die Frage auf: Welche Mitgift wäre die Republik bereit, einem neuen Eigentümer mitzugeben? Da gibt es Beispiele. Gruner + Jahr hat die Verlagsgruppe News im Jahr 2016 an Horst Pirker verkauft. Trotz aller Schwierigkeiten: "News" existiert noch, "Woman" ebenfalls. Das wäre doch das Mindeste, ernsthaft zu prüfen, ob es nicht Interessenten gibt, bevor die "Wiener Zeitung" vom Markt verschwindet. Vielleicht gibt es einen Verleger, den das interessiert? Oder einen Mäzen?

STANDARD: Die Regierung hat immer wieder gesagt, dass es keine ernstzunehmenden Angebote gibt.

Seifert: Sie hätten es zumindest probieren können. Das war bis jetzt nicht der Fall. Deswegen noch einmal zurück zur Minimalforderung: Wir wollen eine Nachdenkpause, bevor man zusperrt und es keine "Wiener Zeitung" mehr in der Trafik oder am Kiosk gibt. Und vielleicht Online ein ganz anderes Produkt entsteht, das mit dem Alten wenig zu tun hat. Wenn am Ende herauskommt, dass niemand mehr ein Produkt wie die "Wiener Zeitung", will, dann wäre das zwar unendlich traurig, aber man müsste es akzeptieren. Aber zumindest die Frage sollte man stellen. Aber wenn ich niemanden frage, werde ich keine Antwort bekommen.

Belfkih: Das ist ein Henne-Ei-Problem. Wenn die Politik nicht den Willen signalisiert, einen Wechsel der Eigentümerschaft vorzunehmen, inwieweit engagiert sich dann ein potenzieller Investor? Ohne die Aussicht auf politischen Erfolg würde ich mich auch bedeckt halten.

"Der Verdacht ist, dass sie die "Wiener Zeitung" im Zweifel lieber in den ewigen Jagdgründe des Journalismus schicken, als zu sagen: Dann lieber einen Neustart mit einem neuen Eigentümer."

STANDARD: Diese Option wurde nur unzureichend kommuniziert?

Seifert: Der Verdacht ist, dass sie die "Wiener Zeitung" im Zweifel lieber in den ewigen Jagdgründe des Journalismus schicken, als zu sagen: Dann lieber einen Neustart mit einem neuen Eigentümer. Ich habe ja größte Sympathie für eine öffentlich-rechtliche "Wiener Zeitung" oder ein Produkt nach dem Muster der freien, nicht-kommerziellen Radios. Denn auch diese Modelle haben ihren Platz. In einer Demokratie muss Platz sein für verschiedene Finanzierungsmodelle, Organisationsformen und Besitzstrukturen. Das Motto sollte lauten: Lass Tausend Blumen blühen. Wer weiß schon, wie sich die Medienwelt in Zukunft weiterentwickelt. Aber: Will ich in einer Welt leben, wo ByteDance – also Tiktok -, Meta – also Instagram, Whatsapp und Facebook – Alphabet – also Google –, Apple oder Netflix den Markt beherrschen und es sonst nichts mehr gibt? Die Antwort ist nein.

In Österreich haben wir ohnehin das Problem, einen überbordenden Boulevardsektor zu haben, mit Gratiszeitungen, und viel zu wenig Platz für eine intelligente, differenzierte Debatten. Bei aller Liebe, das schlägt sich im öffentlichen Diskurs nieder.

Belfkih: Es geht aber auch um den gesamten Medienstandort. Wir wissen alle, dass Vertrieb, Druck oder Papierbeschaffung Themen sind, die Medienhäuser längst nicht mehr für sich allein machen. Hier gibt es große Überschneidungen. Wenn wir und vielleicht noch eine zweite Tageszeitung den täglichen Druck einstellen, kollabiert irgendwann das gesamte System. Niemand kann sich allein einen Vertrieb leisten oder eine Druckerei.

Seifert: Sehen wir uns die Summen an, die im Gesetz für die "Wiener Zeitung" vorgesehen sind: Es ist nur ein Tick weniger als jetzt. Wenn man wollte, wäre es möglich, dass dieses pochende Herz der "Wiener Zeitung" – nämlich die Redaktion – weiter pulsiert. Doch was geschieht? Nebenaufgaben wie Ausbildung werden plötzlich zur Hauptaufgabe um den Preis, dass das eigentliche Herz der "Wiener Zeitung" zu schlagen aufhört. Es ist doch paradox: Das Geld ist ja offensichtlich da! Diese Logik der Politik verstehe ich nicht. Das Bizarre ist, dass es zwar weiter Geld gibt, die "Wiener Zeitung" aber vom Markt verschwindet.

"Wenn die Republik aus dem allerletzten Loch pfeifen und Österreich kurz vor dem Staatsbankrott stehen würde, würde ich das alles sogar noch verstehen. Aber: Man hat in den vergangenen Jahren Milliarden verjubelt."

STANDARD: Es geht nicht darum, Kosten zu sparen?

Seifert: Offenbar nicht. Wenn die Republik aus dem allerletzten Loch pfeifen und Österreich kurz vor dem Staatsbankrott stehen würde, würde ich das alles sogar noch verstehen. Aber: Man hat in den vergangenen Jahren Milliarden verjubelt. Das Geld war ja abgeschafft. Gerade auch bei der Vergabe von Inseraten. Sollte die Frage nicht lauten, welche Medien dienen dem Gemeinwohl? Noch ein Wort zur Medienförderung: Grundsätzlich ist es sehr positiv, dass es hinkünftig Korrespondentenförderung geben soll und so weiter. Nur damit da nicht der Eindruck entsteht, als passiere nicht auch Sinnvolles in der Medienförderung. Ich verstehe nur nicht, welchen Vorteil die Einstellung der "Wiener Zeitung" für den Medienstandort Österreich haben soll.

STANDARD: Kursieren bereits Zahlen, wie viele Leute gekündigt werden müssten, sollte das Gesetz tatsächlich in der geplanten Form kommen?

Seifert: Es würde mich nicht wundern, dass gleich am Tag nach dem Gesetzesbeschluss rund hundert Leute aus dem gesamten Haus beim AMS zur Kündigung angemeldet werden. Das heißt nicht, dass alle tatsächlich gehen müssen, aber das wird ein ziemlicher Schock. In der Redaktion arbeiten rund 40 Redakteurinnen und Redakteure. Betroffen wären aber auch jene, die sonst noch mit der Produktion der "Wiener Zeitung" beschäftigt sind – etwa im Layout, im Sekretariat, Korrektorat, Abo oder Marketing. Allen ist klar, das wird ein massiver Kahlschlag.

Belfkih: Das sorgt im Haus natürlich für großer Verunsicherung. Mit meinen 13 Jahren im Haus bin ich noch gar nicht so lange dabei, wenn ich an viele Kolleginnen und Kollegen denke, die noch viel länger Teil der "Wiener Zeitung" sind.

Seifert: Einige haben ihr gesamtes bisheriges Arbeitsleben hier verbracht. Wir kämpfen für alle. Die journalistischen Arbeitsbedingungen sind vorbildlich. Wenn ich mir die Qualität der Debatten ansehe, die Qualität der Diskussionen in Sitzungen, wo die Leidenschaft spürbar ist, auch komplexe Themen zu vermitteln. Wo auch Themen Raum gegeben wird, von denen wir wissen, dass sie keine Internet-Klickrampensäue werden. Das schmerzt im Herzen, wenn so eine Form von Journalismus verschwindet, das wäre für unseren Berufsstand ein Armutszeugnis. Wir brauchen diese Form von Journalismus, den die "Wiener Zeitung" repräsentiert, wenn es ihn nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.

"Vielleicht waren wir in Vergangenheit etwas zu bequem, dass wir nicht ständig das Mantra vor uns hergetragen haben: Leute, ihr braucht uns."

STANDARD: Die Regierung argumentiert, dass die Zeitung ohnehin vergleichsweise wenig Leserinnen und Leser hat.

Seifert: Es geht nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität. Nicht nur bei der Leserschaft, sondern auch bei den Macherinnen und Machern. Ein Beispiel: Die beiden Ukraine-Korrespondenten des STANDARD – Daniela Prugger und Klaus Stimeder – kommen ursprünglich aus unserem Haus, beide hatten eine tolle Plattform in der "Wiener Zeitung". Die "Wiener Zeitung" brachte viele Geschichten aus der Ukraine – vor dem russischen Angriff – als es oft geheißen hat: Nicht schon wieder eine Ukraine-Geschichte. Da lautete die Frage: Muss das denn jeder so genau wissen? Heute wissen wir: Ja. Darin ist die "Wiener Zeitung" sehr gut, indem sie sich intensiv Themen widmet, die gerade nicht im Berichterstattungs-Mainstream liegen. Manche dieser Artikel sind dann oft auch Recherchegrundlage für Kolleginnen und Kollegen anderer Medien, weil sie tief ins Thema eindringen. Das ist auch eine Leistung, die wir erbringen: der Erklärjournalismus. Davon brauchen wir mehr und nicht weniger.

Belfkih: Wir haben beide in den letzten 15 Jahren mitgearbeitet, dass sich diese Zeitung verändert. Früher war sie wesentlich Agentur-getriebener, jetzt ist sie mehr eine Autorenzeitung. Das Meinungsspektrum hat sich vergrößert, sie ist digital wesentlich besser aufgestellt. In den letzten 15 Jahren ist viel passiert. Sowohl journalistisch als auch technisch. Es ist traurig zu sehen, dass so viel Herzblut in ein Produkt investiert wurde, und dass es jetzt zum Scheitern erklärt wurde.

Seifert: Die Politik war überrascht, dass so viele Menschen gegen das Aus der "Wiener Zeitung" protestieren, dass Kabarettistinnen und Kabarettisten für auf die Bühne gehen, dass sich Autorinnen und Autoren äußern – dass sich die VIP-Liste des intellektuellen Österreich zu uns bekennt. Das macht uns enorm stolz, aber auch demütig. Vielleicht waren wir in Vergangenheit etwas zu bequem, dass wir nicht ständig das Mantra vor uns hergetragen haben: Leute, ihr braucht uns. Der Versuch, die Welt zu erklären, ist absolut ehrenwert. Dieses Besserwissertum ist immer auch ein wenig peinlich, ein wenig unbequem, aber wer soll es denn machen, wenn nicht engagierter, leidenschaftlicher Journalismus? Wenn wir das aufgeben, dann haben wir nur diese Kakophonie der ununterscheidbaren Stimmen und die Leute denken sich: Naja, die einen sagen so und die anderen sagen so. Die Erde ist flach, die Erde ist rund. Bei Corona hatten wir genau das. Eine Demokratie kann aber so nicht funktionieren. Es muss einen fundierten Meinungsbildungsprozess geben, der evidenzbasiert ist.

STANDARD: Kürzlich hat die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, dass Medienmanager Michael Rossipal die "Wiener Zeitung" übernehmen will, es aber offenbar keine Einigung mit dem Bundeskanzleramt gab. Offensichtlich gibt es doch Interesse an einer Übernahme. Was halten Sie von seinem Konzept, das die "Wiener Zeitung" als Onlinemedium und als wöchentliche Printzeitung vorsieht?

Belfkih: Auch wir haben von diesen Übernahmeplänen aus den Medien erfahren, können also inhaltlich nur wenig dazu sagen. Generell gilt: Wir setzen uns auch weiter für möglichst viel Journalismus unter der Marke "Wiener Zeitung" ein. Wenn am Ende eines substanziellen Nachdenkprozesses so eine Lösung im Raum steht, sollte man sie zumindest prüfen. (Oliver Mark, 21.3.2023)