Ganz so einfach vermochte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Proteste in seiner Heimat nicht hinter sich zu lassen, als er am Donnerstag während seines Berlin-Besuchs gemeinsam mit Gastgeber Olaf Scholz vor die Kameras trat. Zwar vereinbarten die beiden Regierungschef eine engere Rüstungskooperation, etwa indem Jerusalem Berlin den Weg für einen Ankauf des Luftverteidigungssystems Arrow 3 frei macht. In diesem Punkt habe es große Fortschritte gegeben, lobte der Kanzler.

VIDEO: Aktivistinnen sprühen in der Nacht auf Donnerstag den Weg zum Obersten Gerichtshof in Jerusalem rot. Für den Tag sind Straßenblockaden und weitere Proteste geplant. Insgesamt sind die Proteste die größten, die das Land je erlebt hat.
DER STANDARD

Davon abgesehen hatte Scholz, der sich als "demokratischer Wertepartner und enger Freund Israels" bezeichnete, aber wenig warme Worte übrig – im Gegenteil: Die Unabhängigkeit der Justiz sei "ein hohes demokratisches Gut", sagte der Kanzler und spielte auf die Proteste in Israel an, die sich gegen den Umbau des israelischen Gerichtshofs durch die rechts-religiöse Regierung Netanjahus richten. Er verfolge die Debatte "mit großer Sorge", ließ Scholz diesen wissen.

In Israel wird gegen die Regierungspläne protestiert.
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Verzögerter Abflug

Die Vorgänge in der Heimat waren auch der Grund, warum sich der langerwartete Besuch des israelischen Langzeitregierungschefs in Deutschland verzögert hatte. Eigentlich hätte Netanjahu schon Mittwochnachmittag von Tel Aviv abfliegen sollen. Die Abreise wurde aber wegen eines "dringenden Sicherheitsvorfalls" verschoben, Netanjahu landete erst gegen zwei Uhr morgens in Berlin. Später stellte sich heraus, was der wahre Grund war: Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog kündigte kurzfristig an, eine "Rede an die Nation" halten zu wollen. Kurz zuvor hatte Herzog mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier telefoniert – ebenfalls wegen der umstrittenen Justizreform.

Der israelische Staatspräsident sparte nicht mit starken Worten. "Wer wirklich meint, dass ein Bürgerkrieg, der Menschenleben kostet, jenseits der Grenzen des Möglichen liegt, der hat keine Ahnung", sagte Herzog, dessen Rede zur Primetime live ausgestrahlt wurde. Die Worte sollten die Koalition aufrütteln. Herzog appellierte nicht nur an die Vernunft der Politiker. Er legte auch einen Kompromissvorschlag vor, der beiden Seiten – Koalition und Opposition – die Chance gibt, ihr Gesicht zu wahren. Der Vorschlag war von einem Expertengremium im Auftrag des Präsidenten erstellt worden.

Wenig amikale Stimmung zwischen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (li.) und seinem deutschen Amtskollegen Olaf Scholz, der sich als "enger Freund Israels" sieht, aber viel Kritik an seinem Gast äußerte.
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Warnung

Yochanan Plesner, der für Israels Demokratieinstitut Teil dieses Gremiums war, sieht den Kompromiss als "einzig mögliches Szenario, wenn die beiden Seiten aufeinander zugehen wollen". Der Plan sei der kleinste gemeinsame Nenner. "Darunter geht es nicht, ohne dass Israels demokratisches System tatsächlich aus den Fugen gerät."

Genau diese Perspektive – und auch die Kritik Scholz' – scheint Netanjahu aber nicht abzuschrecken. Herzogs Vorschlag sei "unausgewogen", sagte er Seite an Seite mit dem Kanzler stehend in Berlin. "Israel ist eine liberale Demokratie, und wir werden eine liberale Demokratie bleiben." Es sei jedenfalls "nicht wahr", dass er die Unabhängigkeit der Justiz untergraben wolle.

Hinter den Kulissen soll Netanjahu aber seine Koalitionspartner aufgerufen haben, über den Vorschlag zu diskutieren. Dabei stieß er auf den Widerstand der rechtsextremen Parteien, aber auch aus seinen eigenen Reihen: Justizminister Yariv Levin, einer der Architekten der Reform, bleibt auch weiterhin hart.

Der Kompromissvorschlag des Präsidenten kommt der Koalition in einigen Punkten entgegen. Trotzdem: Dass alle Richter und Richterinnen künftig von der Regierung bestellt werden sollen, also nicht unabhängig sind, ging dem Präsidenten zu weit. Er schlägt vor, dass die Regierung zwar ein Veto hat, aber auch weiterhin den Konsens mit Opposition und Justizvertretern suchen muss, wenn es darum geht, wer Richter wird.

Attacke auf Demonstration

Wie es nun weitergeht? "Die Straßenproteste werden sich intensivieren", glaubt Politikexperte Plesner vom Israelischen Demokratieinstitut. Sie könnten auch in Gewalt umschlagen. Einen Vorgeschmack darauf sah man bereits am Donnerstag. In ganz Israel wurde erneut zum Protest gegen die Justizreform aufgerufen. An mehreren Orten wurden die Demonstranten von rechten Aktivisten attackiert. (Maria Sterkl aus Jerusalem, Florian Niederndorfer, 16.3.2023)