Die Kunst und das Schöne stehen in einem besonderen Verhältnis. Was der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar über das Kunstwerk schrieb, ließe sich auch über die Schönheit sagen: Es wird von einer Eigenschaft bestimmt, die sich nicht messen lässt. Dem würde wohl auch der britisch-französische Neurowissenschafter Semir Zeki zustimmen: Er begründete in den 1990er-Jahren das Feld der Neuroästhetik und nähert sich dieser schwierigen Frage.

Semir Zeki vom University College London erforscht etwa, was beim Anblick von Schönem im Gehirn passiert.
Foto: Heribert Corn

Zeki analysierte etwa, welche Hirnareale wichtige Rollen spielen, wenn wir Farben und Formen wahrnehmen. Am liebsten spricht der Professor vom University College London mit makroskopischem Blick über die großen Themen Schönheit und Liebe. Das sehen manche Fachleute kritisch. Das Interesse des nichtwissenschaftlichen Publikums ist schnell geweckt. Zeki verfasste Sachbücher wie "Glanz und Elend des Gehirns", kürzlich referierte er als Gast an der Webster Vienna Private University. Mit dem STANDARD sprach er über Kunstschaffende, die vor der Neurobiologie das Hirn erforschten, Sehgewohnheiten und mathematische Schönheit.

Michelangelos "Römische Pietà" (hier bei einer Ausstellung im Opera-del-Duomo-Museum in Florenz) inspirierte Zeki dazu, sich mit der Wirkung von Schönheit und dem Zusammenhang mit Emotionen auseinanderzusetzen.
Foto: Reuters / Jennifer Lorenzini

STANDARD: Geht das Erfahren von Schönem immer mit Emotionen Hand in Hand?

Zeki: Es gibt in den Geisteswissenschaften eine große Debatte darüber, ob man Schönheit ohne Emotion erfahren kann oder nicht. Der russische Autor Leo Tolstoi glaubte, dass sich die beiden nicht trennen lassen. Andere sind nicht dieser Ansicht, auch ich tendiere zur Ansicht, dass sie sich trennen lassen. Ein Grund, weshalb ich Neuroästhetik zu untersuchen begann, war eine berühmte Michelangelo-Statue. Die "Römische Pietà" (die die Jungfrau Maria mit dem toten Jesus in ihrem Schoß zeigt, Anm.) ist ein zutiefst emotionales Werk und hatte auf mich und andere eine sehr starke Wirkung. Andere Werke, etwa die des niederländischen Malers Piet Mondrian, empfinde ich als ästhetisch sehr ansprechend, sie wecken in mir aber nicht diese tiefen Emotionen. Bei Beethovens "Tripelkonzert" geht es mir ähnlich. Andere können das natürlich anders erleben.

Wiener Konzerthaus

STANDARD: Ihre Forschung verknüpfen Sie oft mit vielen weiteren Beispielen, nicht nur aus der bildenden Kunst, sondern auch aus der Literatur und der Musik. Wieso?

Zeki: Neuroästhetik erkennt die Tatsache an, dass viele Personen aus Malerei, Musik und Schriftstellerei das Gehirn studierten, mit ihren eigenen Techniken. Sie verstanden Dinge über Liebe und über unsere geistige Verfassung, bevor wir uns ihnen in den Naturwissenschaften näherten. Das zeigt sich in Sachen Liebe etwa in Emily Brontës "Sturmhöhe", einem der großartigsten Romane in englischer Sprache, der die leidenschaftliche Liebe zwischen Heathcliff und Cathy detailliert beschreibt. In der französischen Literatur haben wir etwa das Beispiel Marcel Proust.

STANDARD: Können Sie darauf genauer eingehen?

Zeki: Meines Erachtens ist jede Figur in Prousts Werk auf die eine oder andere Weise androgyn. Auf die Frage, was er an einem Mann besonders schätze, antwortete Proust: "Weiblichen Charme." Und an Frauen? "Männliche Tugenden." Offensichtlich gibt es eine Fluidität der Geschlechter, die lange nicht anerkannt wurde, derzeit aber im politischen und gesellschaftlichen Diskurs einen wichtigen Platz einnimmt. In unseren Gewohnheiten ist diese Fluidität nicht abgebildet, denn wir sind auf ein binäres System trainiert. Aber sie spiegelt sich in der Biologie wider und kommt allmählich an die Oberfläche. Sie wird auch in einigen Kunstwerken dargestellt, die in diesem Bereich der Neurobiologie voraus waren.

"Biologie übertrumpft alles."

STANDARD: Das binäre Geschlechtersystem ist in der statistischen Analyse auch am einfachsten anwendbar, um Unterschiede zu erforschen.

Zeki: Ja, aber wir müssen verstehen, dass die Biologie alles übertrumpft. Schauen wir uns die Anatomie des Gehirns an. Eine Studie hat das typische Verbindungsmuster in Hirnen analysiert, die klassisch als "alpha-männliche" und "alpha-weibliche" Gehirne gelten. Sie hat gezeigt, dass die meisten Gehirne von Menschen zwischen diese beiden Extreme fallen und daher in unterschiedlichem Maße als "androgyn" bezeichnet werden können.

STANDARD: Was lernten Sie beim Erforschen der Neurobiologie der Liebe?

Zeki: Während sich unsere Ansichten über die Liebe schnell ändern, ist ihr biologisches Wesen seit Jahrhunderten dasselbe geblieben. Üblicherweise sprechen wir von romantischer Liebe, der leidenschaftlichen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, die in Liebe vereint sein wollen – nicht einmal zwingend sexuell.

STANDARD: Gilt das nur für Mann-Frau-Paare?

Zeki: Nein, das Gefühl kann genau dasselbe sein zwischen einem Mann und einem Mann oder einer Frau und einer Frau.

Bildgebende Verfahren können zeigen, welche Bereiche im Gehirn bei bestimmten Vorgängen aktiv werden – zum Beispiel wenn man das Bild eines geliebten Menschen sieht.
Foto: Nomad Soul / Imago / Panthermedia

STANDARD: Wie wurden diese Studien durchgeführt?

Zeki: Unsere Testpersonen bringen ein Bild von jemandem, den sie lieben, und Bilder von vier anderen Menschen, die im gleichen Alter sind und das gleiche Geschlecht haben, die die Testperson ebenfalls kennt, denen gegenüber sie aber keine romantischen Gefühle hat. Im MRT-Scanner beobachten wir die Reaktionen des Gehirns, wenn die Bilder angesehen werden. Wir bestimmen, welche Hirnmechanismen dabei involviert sind. Bei romantischer Liebe kann man keinen Unterschied im Aktivitätsmuster zwischen verschieden- und gleichgeschlechtlichen Liebenden erkennen. Bei sexueller Aktivität gibt es Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.

"Ich könnte Ihnen sagen, welche Gemälde Sie am schönsten finden."

STANDARD: Wie beeinflusst Liebe, was wir sehen?

Zeki: Sie wirkt sich auf das Beurteilungssystem aus. Das betrifft nicht nur romantische Liebe: Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für Eltern, die ihre eigenen Kinder oft weniger streng beurteilen als andere Kinder. Dieses Aussetzen der Urteilskraft gegenüber denjenigen, die wir lieben, ist das Ergebnis einer Deaktivierung von Teilen des Gehirns, die ins Urteilen involviert sind. Das ist aber spezifisch in Bezug auf die geliebte Person. Es lässt sich nicht für alle anderen Urteile, die wir treffen, verallgemeinern.

STANDARD: Wie ähnlich sind die Hirnmechanismen, die bei der Liebe aktiv sind, und das Belohnungssystem?

Zeki: Es sind ähnliche Neuropeptide (Signalstoffe, Anm.) und ähnliche Hirnbereiche involviert, vor allem im Stirnlappen. Liebe belohnt uns und erzeugt Genuss. Das tut gutes Essen auch. Aber man kann den Unterschied zwischen gutem Essen und Liebe erkennen.

STANDARD: Kann man diesen Unterschied auch auf Hirnscans sehen?

Zeki: Ich denke, das könnte ich, wenn ich sehen würde, welche Bereiche aktiviert wurden. Ich könnte Ihnen auch sagen, welche Gemälde Sie am schönsten finden. Stellen Sie sich vor, Sie schauen sich 100 Gemälde an und bewerten sie auf einer Skala von eins bis zehn, von "überhaupt nicht schön" bis "sehr schön". Wenn ich Ihre Hirnscan-Ergebnisse für jedes Bild betrachten würde, könnte ich Ihnen wohl sagen, welche Sie schön fanden.

Der mediale orbitofrontale Cortex ist aktiv, wenn wir Schönes erleben, sagt Zeki. Er befindet sich oberhalb der Augenhöhlen, im vorderen (in dieser Illustration: linken) Bereich des Gehirns.
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STANDARD: Warum könnten Sie das?

Zeki: Wenn Sie etwas Schönes erleben, dann wird unter anderem der mediale orbitofrontale Cortex aktiviert, eine Hirnregion, die über unseren Augenhöhlen liegt. Die Stärke dieser Aktivität ist proportional dazu, wie intensiv Sie die Schönheit erleben. Andere Bereiche werden zusätzlich angeregt. Doch diese Hirnregion ist die einzige, die aktiv wird, egal ob die Quelle visuell, musikalisch oder mathematisch schön ist. Das Experiment wurde 2001 veröffentlicht, ich denke, es basierte auf weniger als 20 Testpersonen, weil MRT-Studien sehr teuer sind. Aber bisher wurde keine Abweichung von der Regel, dass diese Hirnregion immer aktiviert wird, festgestellt. Ich finde es faszinierend, dass man quantitativ und wissenschaftlich Probleme angehen kann, von denen Menschen dachten, dass sie sehr subjektiv wären.

STANDARD: Was meinen Sie mit mathematischer Schönheit? Symmetrien?

Zeki: Nein, das ist eine befriedigende Eigenschaft, die schwierig zu definieren ist. Wenn man sie erlebt, hat man das Gefühl, dass etwas endlich Sinn ergibt – im logischen, schlussfolgernden System des Gehirns. Um mathematische Schönheit zu untersuchen, mussten wir Mathematiker:innen* als Testpersonen bekommen. Man kann immerhin keine Leute auf der Straße finden und fragen, ob eine mathematische Formel schön ist.

"Kunsthistoriker:innen wissen zu viel."

STANDARD: Was ist bei der Studie herausgekommen?

Zeki: Die Ergebnisse waren großartig: Bei allen 15 Mathematiker:innen haben wir eine Aktivität des medialen orbitofrontalen Cortex gesehen. Und in jedem Fall war sie stärker, je intensiver die Person die mathematische Schönheit erfahren hat, also direkt proportional dazu. Ich habe nach Fehlern gesucht, weil ich nicht glauben konnte, dass das Resultat so extrem klar war.

STANDARD: Der Begriff "Ästhetik" kann sich auf Schönheit beziehen. In der Kunstgeschichte etwa wird damit aber meist etwas beschrieben, das wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können.

Zeki: Für Menschen wie mich ist es überhaupt schwierig, mit Kunsthistoriker:innen über unsere Arbeit zu sprechen. Sie wissen zu viel. Sie nehmen Dinge wahr, die die normalen Leute normalerweise nicht sehen, und kennen sich mit Farben, Harmonien und verschiedenen Malereistilen aus. Selbst wenn sie düstere und verzerrte Bilder ansehen, wie die Gemälde von Francis Bacon, die Margaret Thatcher einmal als "schrecklich" beschrieben hat. In unseren Experimenten sind wir derzeit nicht an Fachleuten interessiert, sondern an "gewöhnlichen" Menschen. Wenn wir die gewöhnliche Erfahrung verstanden haben, können wir analysieren, wie Fachleute das sehen.

Die Gemälde des britischen Künstlers Francis Bacon würden wohl nur wenige Menschen als "sehr schön" bezeichnen. Ein Kunsthistoriker hat jedoch einen anderen Blick darauf als die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher.
Foto: Lucas Jackson / Reuters

STANDARD: Bei den Mathematikerinnen und Mathematikern war das freilich anders ...

Zeki: ... weil sie die mathematische Sprache erlernt haben, die ihnen erlaubt zu entscheiden, ob eine Formel schön ist.

STANDARD: Wie beeinflussen unsere Sehgewohnheiten und Erfahrungen, was wir schön finden?

Zeki: Das wurde bisher noch nicht sehr gut erforscht. In der Neurobiologie teilen wir Schönheit in zwei große Kategorien ein. Biologische Schönheit bezieht sich etwa auf Körper oder natürliche Landschaften. Künstliche Schönheit ist von Menschenhand geschaffen: Autos, Gebäude, Kleidung und so weiter. Ein sehr schöner Mann oder eine sehr schöne Frau würde in Asien ebenso als schön eingestuft werden wie in Afrika oder Europa. Im Gegensatz dazu kann jemand, der in China aufgewachsen ist, die Architektur buddhistischer Tempel bevorzugen, während jemand, der in Frankreich aufgewachsen ist, Kathedralen lieber hat. Das ist eine ganz andere Sache, die man leichter ändern kann.

STANDARD: Warum unterscheiden sich die beiden Kategorien?

Zeki: Die Wahrnehmung biologischer Schönheit ist nicht so subjektiv, wie es oft heißt. Sie wird eher durch ererbte Konzepte bestimmt, die alle Menschen gemeinsam haben. Manche denken, Schönheit kommt beispielsweise durch Symmetrie zustande. Doch jemand kann ein Gesicht mit zwei Augen, einer Nase, einem Mund, den richtigen Proportionen und Symmetrien haben und dennoch nicht als sehr schön angesehen werden. Es gibt also eine andere, unbeschreibliche Qualität, die bestimmt, dass etwas schön ist. (Julia Sica, 19.3.2023)