Im Gastblog schildert Robert Pichler, wie der Fluss und sein ökologischer Reichtum durch Protest aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft bewahrt wurden.

Die Vjosa, die im nördlichen Pindosgebirge als Aoos (griechisch Αώος) entspringt und dann weiter Richtung Nordwesten nach Albanien fließt, rückte in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit. Die Vjosa gilt als der letzte größere naturbelassene Fluss Europas außerhalb Russlands. Der Flusslauf, der bis heute von allzu großer Besiedelung und von Industrialisierung verschont geblieben ist, bildet ein Gebiet mit einem fantastischen Mosaik aus unterschiedlichen Lebensräumen: enge Schluchten im Oberlauf, breite Schotterflächen und Sandbänke umgeben von mächtigen Gebirgslandschaften im Mittellauf und ein weitgehend natürliches Delta an der Adria-Küste.

Die Vjosa bei Kanikol im Süden Albaniens. Im Hintergrund das Nemërçka-Gebirge.
Foto: Robert Pichler, 2022

Bekannt wurde die Vjosa vor allem deshalb, weil ihr ökologischer Reichtum bedroht wurde. Bereits in den 2000er-Jahren plante die albanische Regierung die Vergabe von Konzessionen an internationale Unternehmen zum Bau von Wasserkraftwerken entlang der Vjosa. Ein erstes großangelegtes Bauvorhaben wurde 2007 in der Nähe des Dorfes Kalivaç, am Unterlauf der Vjosa, eingeleitet. 2010 wurden die Arbeiten jedoch eingestellt, noch bevor mit dem Bau der Staumauer begonnen worden war. Der fast 50 Meter hohe Staudamm hätte die Flusslandschaft nachhaltig zerstört.

An dieser Stelle hätte das Wasserkraftwerk Kalivaç entstehen sollen. Die Arbeiten wurden mittlerweile eingestellt.
Foto: Joachim Matzinger, 2021

Widerstand gegen Bauvorhaben

Alarmiert von dieser Entwicklung forderten Naturschützer und Naturschützerinnen, auf den Bau von Kraftwerken an der Vjosa und ihren Zubringern generell zu verzichten. Stattdessen sollte die Flusslandschaft in einen Nationalpark umgewandelt werden. Der Widerstand gegen geplante Bauvorhaben intensivierte sich seit 2014 mit maßgeblicher internationaler Unterstützung.

2015 nahm das EU-Parlament in einem Bericht Stellung zum Bau von Wasserkraftanlagen im Land. Der Flusslauf der Vjosa wurde dabei als ökologisch gefährdetes Gebiet bezeichnet. Der Bau von Staudämmen in solchen Gebieten müsse von der albanischen Regierung besser kontrolliert und die lokale Öffentlichkeit unbedingt angehört und in die Planung miteinbezogen werden.¹

Trotz dieser Einwände betraute die albanische Regierung nach einem Bieterverfahren und einer rasch durchgeführten Umweltverträglichkeitsprüfung 2016 ein türkisch-albanisches Konsortium mit dem Weiterbau des Kraftwerks in Kalivaç.² Diese Entscheidung, die das Vorgehen der Regierung als reines Lippenbekenntnis entlarvte, untermauerte die Zweifel an deren Glaubwürdigkeit in dieser Sache und mobilisierte und diversifizierte den Widerstand.

In Namen der Wissenschaft

An vorderster Front standen dabei Wissenschafter und Wissenschafterinnen, die gerade erst begonnen hatten, den ungeheuren Artenreichtum der Vjosa zu studieren. In einer Petition an die albanische Regierung forderten 776 Wissenschafter und Wissenschafterinnen aus 46 Ländern die Einstellung aller geplanter Wasserkraftprojekte an der Vjosa. Die Projektvorhaben, so deren alarmierende Argumentation, würden die ökologische Einmaligkeit des Gebietes zerstören und einen Verlust an Biodiversität nach sich ziehen, mit schwerwiegenden Folgewirkungen für die Natur und die Menschen in der Region.³

Darüber hinaus, so die Kritik, habe die Vergabe von Konzessionen keinesfalls den internationalen Standards von Umweltverträglichkeitsprüfungen entsprochen. Dass Korruption hierbei eine Rolle spielte, war allen Beteiligten klar. Stattdessen forderten Wissenschafter und Wissenschafterinnen im Verbund mit NGOs wie Riverwatch, Euro Nature, Mava, IUCN sowie der in Albanien tätigen Organisation Eco Albania die Einstellung aller Bauvorhaben und die Errichtung eines Wildfluss-Nationalparks, der das gesamte Ökosystem – Einzugsgebiet, Nebenflüsse, Auen, Delta – sowie seine Flora und Fauna bewahren würde.⁴

Nationalpark Vjosa

Was kaum jemand für möglich hielt, wurde im Juni 2022 Realität. Das Aufbegehren von Anrainergemeinden, Personen aus Umweltschutz, Wissenschaft, Kunst sowie einer beträchtlichen internationalen Öffentlichkeit bewog die Regierung Albaniens dazu, an der Vjosa einen Wildfluss-Nationalpark zu errichten. Demnach wird das gesamte Flusssystem der Vjosa von der Grenze zu Griechenland bis an die Adria unter Schutz gestellt, einschließlich ihrer frei fließenden Nebenflüsse.

Angepasster Tourismus und Bio-Landwirtschaft sollen die Eckpfeiler der Regionalentwicklung sein.⁵ Am 13. März dieses Jahres hat die albanische Regierung nun den offiziellen Beschluss für das Nationalpark-Projekt vorgelegt.⁶ Diese Entscheidung sollte auch Signalwirkung über die Grenzen Albaniens hinaus haben, denn in kaum einer Region Europas sind derart viele Flusskraftwerkprojekte geplant wie auf dem Balkan. Die NGO "Save the Blue Heart of Europe" hat auf ihrer Homepage eine Karte mit bestehenden und geplanten Wasserkraftwerken in der Region veröffentlicht, die eindrucksvoll die Dichte an Projekten vermittelt.

Zukunftshoffnung Tourismus

Ausschlaggebend für dieses Umdenken war sicherlich auch das enorme Potenzial, das ein Flussnationalpark für die Tourismusbranche besitzt. Der Tourismus in dem Gebiet hat in den letzten Jahren enorm an Fahrt aufgenommen, in nur 20 Jahren hat sich der Sektor zu einem Wirtschaftsmotor entwickelt. Bis 2019 verzeichnete der albanische Tourismus zehn aufeinanderfolgende Jahre mit stetem jährlichem Wachstum, von rund einer Million internationalen Ankünften im Jahr 2007 (Weltbank ND) auf 6,4 Millionen im Jahr 2019 (UNWTO 2020), was einem Anstieg von mehr als 500 Prozent entspricht.

Ein großer Teil dieses Zuwachses geht auf das Konto albanischer Touristen und Touristinnen aus den Nachbarländern und aus der Diaspora, der Zustrom ausländischer Gäste ist in den Jahren 2014 bis 2019 aber auch um 80 Prozent angestiegen. Im Jahr 2019 machte der Tourismus 21,2 Prozent des albanischen Bruttoinlandsproduktes aus. 22 Prozent der Beschäftigten verdienten ihr Einkommen im Tourismus.⁷

Die Covid-19-Pandemie hatte diesen Trend radikal unterbrochen, Reiseveranstalter mussten Umsatzeinbrüche von bis zu 90 Prozent hinnehmen. Seit 2022 geht es aber wieder steil bergauf mit dem Tourismus, und es ist davon auszugehen, dass der Albanien-Boom in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird.

Die Stadt Përmet wirbt mit dem Slogan "Abgesehen vom Meer haben wir hier alles!" um Touristinnen und Touristen.
Foto: Credits fehlen

Die Möglichkeiten für Öko-Tourismus entlang der Vjosa sind ausgesprochen gut. Noch ist man dabei, die Grundlagen dafür zu schaffen. Besonders begehrt ist die Region zum Wandern, Biken und Klettern. Angeboten werden auch Rafting-Touren, Reiten und Höhlenwanderungen. Auch kulturell und kulinarisch hat die Region sehr viel zu bieten. Es sind somit perfekte Voraussetzungen gegeben, ein Nationalparkprojekt mit internationaler Strahlkraft umzusetzen. Ob es gelingen wird, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, wird sich aber erst zeigen.

In den vier weiteren Blog-Beiträgen werden Ergebnisse von ersten Erkundungsreisen entlang der Vjosa vorgestellt. Ausgehend von geplanten historisch-anthropologischen und sprachwissenschaftlichen Forschungsprojekten über sich wandelnde Beziehungen der Menschen dem Fluss gegenüber werden die Blog-Beiträge einen vertieften Einblick in die Lebensbedingungen an der Vjosa geben und dabei auch die Herausforderungen thematisieren, die mit einer Umsetzung des geplanten Nationalparkprojektes einhergehen. (Robert Pichler, 23.3.2023)

Robert Pichler arbeitet als Historischer Anthropologe und Fotograf am Forschungsbereich Balkanforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In seiner Arbeit befasst er sich mit Migration in, aus und nach Südosteuropa sowie mit bildwissenschaftlichen Fragestellungen. Seine fotografischen Arbeiten sind ethnografisch inspiriert und befassen sich mit Aspekten des sozialen und kulturellen Wandels in peripheren Regionen Südosteuropas.

Blick von Biovizhdë Richtung Südosten.

Foto: Katja Ackermann, 2022

Die Vjosa bei Vllaho-Psillotare nahe der griechischen Grenze.

Foto: Robert Pichler, 2022

Pfeiler einer Hängebrücke bei Kanikol.

Foto: Robert Pichler, 2022

Blick auf Përmet, das lokale Zentrum im südlichen Vjosatal.

Foto: Robert Pichler, 2022

Das Vjosatal nördlich von Përmet.

Foto: Robert Pichler, 2022

Blick von der antiken Ausgrabungsstätte Byllis ins Vjosatal.

Foto: Robert Pichler, 2022

Relikte des antiken Theaters von Byllis. Im Hintergrund die Vjosa.

Foto: Robert Pichler, 2022

Am Unterlauf der Vjosa bei Selenica.

Foto: Robert Pichler, 2022

Bei Novoselë, nahe an der Mündung.

Fußnoten

¹ Europäisches Parlament. Bericht 2015 über Albanien, S. 8, abgerufen am 3. Mai 2016.

² Consortium Wins Bid for Kalivac HPP on Vjosa River, Tirana October 30.

³ Widerstand der Wissenschaftsgemeinde gegen Verdammung der Vjosa in Albanien, 17.2.2020.

⁴ Horst Hamm, Das blaue Herz Europas.

⁵ Siehe dazu die instruktive Reportage von Franziska Tschinderle: Die Vjosa: Wie einer der letzten großen Wildflüsse Europas gerettet wurde. "Profil" am 22.6.2022.

⁶ Giada Kuka, Vjosa River is officially declared a National Park.

Towards sustainable tourism in Albania’s Vjosa River Region. An analysis of the key constraints and opportunities to create more and better jobs in the region around Europe’s last wild river. International Labor Organisation 2020, 9.

Foto: Robert Pichler, 2022