Ob eine schwarze oder weiße Person ihre Bücher übersetzt, ist Bernardine Evaristo egal. Es müsse die bestgeeignete sein.

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Darf eine Frau heutzutage einen Roman über einen schwulen Mann veröffentlichen? Identität spielt in den Romanen von Bernardine Evaristo stets eine Hauptrolle. Einerseits sind ihre Figuren schwarz und meist karibischer Abstammung, andererseits sind viele von ihnen queer. In Mädchen, Frau etc. etwa, dem Buch, für das Evaristo 2019 als erste schwarze Autorin den britischen Booker-Preis zugesprochen bekam und mit dem sie auch hierzulande bekannt wurde. Oder im Roman Mr. Loverman. Hauptfigur darin ist ein karibischer, in London lebender schwuler Mann Anfang 70. Nach 50 Jahren Ehe voller Gekeife, in der Barrington seine Frau mit Langzeitliebhaber Morris betrogen hat, will er sich jetzt outen.

Im Original ist Mr. Loverman schon vor zehn Jahren erschienen. Einmal mehr präsentiert Evaristo ein Panorama schwarzer Biografien. Der aus Antigua stammende, flamboyante Barrington hat in einer Autofabrik gearbeitet, aber mit Immobilien ein kleines Vermögen gemacht. Das beschert ihm nicht nur ein schönes Haus, in dem die tratschende Kirchengemeinde seiner Frau schon einmal zum Tamarindeneintopfessen vorbeikommt, sondern auch den erwachsenen Töchtern ein selbstbestimmtes, freies Leben. Dem Enkel bezahlt Barrington die Eliteschule. Diese Geschichte funktioniert auch heute noch toll.

Repräsentationsfragen

Dennoch war die Welt 2013 eine andere: Der Begriff Identitätspolitik führte bei den meisten nur zu fragenden Gesichtern. Diskussionen um Aneignung, Repräsentation und Authentizität fanden noch fern einer breiteren Öffentlichkeit statt. Man hat bei der Lektüre anno 2023 also die Frage im Kopf: Ist Evaristos Entscheidung, als Frau von einem Schwulen zu erzählen, verwegen?

Sie habe sich das nicht vorgenommen, sagt die Autorin. Sie arbeitete an einem anderen Roman, als Barrington ihr passiert sei, sie die Figur aber sofort geliebt habe und habe sehen wollen, wohin sie führen würde. Und: "Ich habe mir gedacht, niemand sonst schreibt über so eine Figur. Es gab damals nicht viel schwarze, queere Literatur, schon gar nicht in Großbritannien." Hat sie auch in den letzten Jahren keinen Widerspruch gehört? "Nein, und ich denke, er wäre inzwischen dumm. Denn schwarze, schwule, ältere Menschen lieben das Buch. Was mir sagt, dass es für sie authentisch ist."

Evaristo weiß, wovon sie spricht, wenn sie vom schweren Stand schwarzer Autoren erzählt. 1959 wurde sie in London als Tochter einer weißen englischen Mutter und eines schwarzen Vaters geboren, der als Wirtschaftsflüchtling aus dem auf dem Sprung in die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht befindlichen Nigeria auf die Insel gekommen war. Seit Jahrzehnten ist sie in Großbritannien eine zentrale Figur der schwarzen Literatur und des Theaters. Schwarze Vorbilder? Gab es in ihrer Jugend in ihrer Heimat allerdings nicht. In den USA fand Evaristo schwarze erfolgreiche Autorinnen und Autoren, die für sie zur Inspiration wurden. 1995 gründete sie die erste schwarze britische Theatergruppe, daneben initiierte sie Literaturpreise und Mentoringprogramme für schwarze Autoren.

Große Aufmerksamkeit

"Die längste Zeit meiner Karriere habe ich mich ausgeschlossen gefühlt", sagt Evaristo, obwohl unzählige Preise, Vorsitze, Lehraufträge ihrer Arbeit seit den 2000ern Respekt zollen. Sie häufen sich aber erst zuletzt. Mit dem "Booker" kam die große Aufmerksamkeit. "Über Nacht wurde ich ernst genommen, hatte Status und viel mehr Leser." Übersetzungen und internationale Leseeinladungen folgten. Vorige Woche trat sie im Wiener Rabenhoftheater auf. Ihre Sichtbarkeit ist auch die Sichtbarkeit anderer: Dass sie mit 60 Jahren und ihrem achten Buch gewonnen hat, habe vielen Leuten in der Branche "ein Signal gegeben. Plötzlich hat sich für viele Stimmen die Tür ein bisschen weiter geöffnet."

Tatsächlich gibt es dahinter viel zu entdecken. Mr. Loverman ist voll britisch-karibischen Lebens. Evaristo erzählt von Rassismus, Klasse, Aufstieg, von verschiedenen Lebensentwürfen und Assimilationsgraden der Generationen. Ihr Roman ist zugleich niederschwellig, rasant und reflektiert. Einsprengsel von karibischem Englisch im Original kommen in der Übersetzung umgangssprachlich daher. Evaristo hat viele karibische Freunde. Ohne diese Erfahrungen hätte sie sicher "kein Ohr" für diese Persönlichkeiten und deren Sound gehabt, sagt sie. Sie glaubt an die "totale kreative Freiheit" und daran, dass Autoren über alles schreiben können, worüber sie wollen. Natürlich brauche es aber Recherche für Figuren außerhalb der eigenen Lebenswelt.

Bei Mädchen, Frau etc. taten sich dabei unerwartete Hürden auf. Zwar hat Evaristo zehn Jahre lesbisch gelebt, seit 2006 ist sie aber mit einem Mann verheiratet. "Ich habe also während der Arbeit am Roman eine junge queere Freundin gefragt, wie Lesbenclubs heute so sind. Da sagte sie, das seien heute Queerclubs."

"Übervorsichtig bis lächerlich"

Der Authentizität wegen fällt in Mr. Loverman das Wort "Schwuchtel". Wurde sie schon aufgefordert, Begriffe zu vermeiden? "Nein." Eine Beschwerde bezüglich der Darstellung einer Person mit Hasenscharte fand sie "übersensibel". Die Rolle empörter Medien in Debatten wie jüngst um "übervorsichtige bis lächerliche" Überarbeitungen der Kinderbücher Roald Dahls sieht sie trotzdem kritisch. Denn manche nähmen solche Fälle als Beleg dafür, dass "die Dinge aus dem Ruder laufen". Dahinter stehe oft der Versuch, fortschrittliche Politik zu untergraben. Die Tendenz macht ihr Sorgen.

Der karibische Bevölkerungsanteil in Großbritannien gehe zurück, der mit afrikanischen Wurzeln wachse. Das Rassismusproblem sei besser geworden, aber immer noch gegeben. Insofern sei Rishi Sunak als Premier für sie nicht nur eine Überraschung gewesen, sondern auch "bedeutsam". Ob ihre Bücher von Schwarzen oder Weißen übersetzt werden, ist ihr hingegen, obwohl es wichtig sei, dass Verlage sich öffnen, egal. "Ein Übersetzer kreiert ein Buch ja nicht." Was ihre Bücher vermitteln sollen? "Ich versuche mir nicht vorzustellen, wie Leser reagieren. Wenn aber, dann will ich der afrikanischen Diaspora und ihrer Geschichte in der Literatur einen Platz geben." Das gelingt! (Michael Wurmitzer, 17.3.2023)