Von jeder Reise bleibt der Blick noch an den Fotos hängen.

Foto: Barbara Seyr

Über das Abwesende I

januar kriecht aus der gefrorenen erde

häutet sich und legt sich über die bäume und weiden

frisch zerfallen als schnee · ohne in der luft zu bleiben

mittag eine spiegelscherbe

eine handspanne

darunter die schatten erst blau dann schwarz: von nord

nach süden lässt das spärliche der sonne

das hinter sich wofür sie zurückgesehnt wird

verrät fehlendes

seine eigenart · als bleibe von der gegenwart

nur lautmalendes

ob das dunkel vor dem licht begann

ist nicht zu sagen – nur dass eins aufs andere verweist

und sie verbindet in dem paradoxon

dass vermisstes bestand hat: man beständiges vermisst

egg, 17. 1. 21

alles, was man tut, alles körperliche steht präsentem gegenüber, alles gedankliche hingegen liegt in absentem: sie durchdringen sich, indem abwesendes gleichsam im ausatmen des anwesenden sichtbar wird.


Über das Abwesende II

von jeder reise bleibt der blick

noch an den fotos hängen um dann im bad

einzelnes zu verräumen · bett glattgestreift kanten gerad

ist es eher reflex denn ein tick

als würde der nächste der das haus betritt ein makler sein

der nur noch unpersönliches vorfinden soll

einmal aus der tür büsst das ich den halt ein

als fordere jeder übertritt zoll

für die armseligkeiten der vorstellung der eigenen person

sie verliert ihre eingessene gestalt und bricht auf

zu brocken die man im fortlauf

anders zusammenfügt · die leerstelle darin auch das

was man im fremden sieht wie durch zersprungenes glas:

brennende stühle vor einem rhododendron

windstösse · ein plastiksack flatternd an einem ast

der mond melonenfarben in einem hochspannungsmast

morgens dann im lohen des lichts

flüchtige gedanken wie ich werde sterben als wolke

durchbrochen weiss und voller nichts

niš, 17. 9. 21

die ursprüngliche bezeichnung für einen leichnam, "soma", stand bei den griechen bald für den lebendigen menschen, ein individuum, seine persönlichkeit; sein grab wurde dagegen "sema" genant, als das "zeichen" seiner.

Raoul Schrott, "Inventur des Sommers. Über das Abwesende". € 24,70 / 176 Seiten. Hanser-Verlag, 2023. Das Buch erscheint am 20. März.
Hanser

Über das Abwesende III

von der nacht in die nacht über drei grenzen

in ein restoran unter der autobahnbrücke

mit weissbrot den teller sauber wischen · grosse schlucke

bier · vom strand her taktschleifen zum abtanzen

aufs wasser starren um nicht mit meinem schatten zu reden

oder auf die nachbartische und an der mimik erraten

an wem sich das ewig selbe wiederholt

wie glorie sich zeigen könnte · wo glück fehlt

während keinen steinwurf weiter dies schwarze meer

umso schwärzer ins finstere fliesst

gleich dem dunkel in uns in dem man nach oben schwimmt

mit letzter luft oder weil da ein fischlicht brennt

doch das bild führt in die irre: da ist kein ziel · vielmehr

stehen wir an bord von fährschiffen die sich nachts kreuzen

silhouetten in der deckbeleuchtung umfasst

vom fahrtwind die ihre hand zum gruss spreizen

kilyos, 18. 9. 21

zu allem geschriebenen und gesagten gehört auch ungedachtes, ohne dass es deshalb ursprünglicher wäre als das durchdachte; vergessenes bleibt nicht immer irgendeiner tiefe wegen verborgen, es muss weder das schwierigste noch das naheliegend einfachste sein. was solcherart abwesend bleibt, stellt bloss den zwangsläufig vom denken geworfenen schatten dar. (Raoul Schrott, 19.3.2023)