Die Szene ist in einem Video dokumentiert: Als eine Schülerin in Perm, rund 1.000 Kilometer nordöstlich von Moskau, am Vorabend des Jahrestags der Ukraine-Invasion zu spät zu einem "patriotischen Konzert" erscheint, sagt ihre Lehrerin: "Ab morgen kommst du nicht mehr zum Unterricht – du bist eine Verräterin!" Russische Pädagogik im Zeichen der "Spezialoperation".

Russische Kinder (Bild: Sankt Petersburg) werden darin unterrichtet, "gute" Bürgerinnen und Bürger zu werden.
Foto: EPA/ANATOLY MALTSEV

Die Schule, in die die kleine Mascha geht, ist in Jefremow in der Region Tula. Auf der Website ihrer Schule findet sich ein Plakat mit der Aufschrift "Unterstützt unsere Jungs an der Front!". Im Kunstunterricht fordert Maschas Lehrerin die Klasse auf, Bilder zur Unterstützung der russischen Truppen in der Ukraine zu malen. Das Mädchen zeichnet die russische und die ukrainische Flagge – die erste sagt "Nein zum Krieg", die zweite sagt "Ehre der Ukraine". In der Mitte steht eine Frau mit einem Kind, Raketen fliegen aus Russland auf sie zu. So berichtet es die Menschenrechtsorganisation OVD-Info.

Sorge um die Tochter

Für Mascha endet die Geschichte zunächst im Waisenhaus. Und für ihren Vater, den alleinerziehenden Alexej Moskalew, mit zwischenzeitlicher Festnahme und einer Geldstrafe. Nun steht er unter Hausarrest, und Mascha ist wieder bei ihrem Vater. "Hauptsache, er ist zu Hause und bei seiner Tochter, um die er sich so große Sorgen gemacht hat", sagte Moskalews Anwalt dem Nachrichtenportal RBC.

Bereits die Kleinsten in Russland sollen auf Staatslinie gebracht werden – die neue Aufgabe für Russlands Schulen. "Das vom Bildungsministerium genehmigte Bildungsprogramm in sechs Fächern, der Kurs für grundlegende Lebenssicherheit (OBZh), wurde durch eine militärische Grundausbildung (NVP) ergänzt", berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Interfax. Zum neuen Schuljahr, am 1. September, soll es losgehen.

Der Unterricht wird laut Interfax sehr praktisch werden. "Während des Moduls 'Elemente des NVP' vertieft man sich in das Studium von Drill und Militärgruß, Waffen, darunter das Kalaschnikow-Sturmgewehr, F-1- und RGD-5-Granaten, sowie Aktionen im modernen Schießkampf." Für den Soziologen Iskander Jasawejew ist "dies weniger eine ernsthafte militärische Ausbildung als vielmehr eine Ausbildung in Gehorsam, Befolgen von Befehlen und Unterwerfung".

Heftige Kontroverse

Um das neue Schulfach ist in Russland eine heftige Kontroverse entbrannt. Für den Parlamentsabgeordneten Sergej Mironow, einen der Befürworter, ist die Sache klar: "Unter den derzeit sehr schwierigen Bedingungen sollte jeder junge Mann, wenn nötig, in der Lage sein, mit Waffen umzugehen, und verstehen, was eine militärische Erstausbildung ist", sagt er. Daniil Ken, Leiter der unabhängigen Gewerkschaft "Bündnis der Lehrer", meint hingegen, das Ganze sei "unmoralisch".

Ausbildung an der Schusswaffe in der Schule? Manche Eltern und Lehrer befürchten, dass dadurch die Gewaltbereitschaft steigt. Schließlich erschüttern immer wieder Amokläufe an Schulen die russische Gesellschaft. Wladimir Pawlow, Parlamentsabgeordneter der Kreml-Partei Einiges Russland, hält dagegen: "Die Tatsache, dass wir Buben und Mädchen erklären, wie Waffen funktionieren, wird nichts ändern. Sie können dasselbe im Internet finden."

Ex-Soldaten als Lehrer?

Sergej Mironow, glaubt, dass Ex-Soldaten das neue Fach unterrichten sollten. Dies würde auch neue Jobs für die Rückkehrer von der Front schaffen. Offiziell geplant ist das aber nicht. Doch vereinzelt geben schon heute ehemalige Frontsoldaten Unterricht. Das Onlineportal "Fontanka" veröffentlichte ein Video, in dem ein Kampfpilot vor der Klasse steht. Er wurde verwundet und wird nun in Sankt Petersburg medizinisch behandelt. Hier will er "der Armee helfen" und "patriotische Arbeit mit Schulkindern" leisten.

Ex-Soldaten als Lehrer? Viele, wie etwa der Psychologe Dmitri Leontjew, sind dagegen. "Natürlich gibt es keinen Grund zu glauben, dass diejenigen, die von der Front zurückgekehrt sind, erfolgreich mit Kindern interagieren und ihnen Wissen vermitteln können; es gibt mehr Gründe zu befürchten, dass sie eine ungesunde psychologische Atmosphäre in die Schule bringen können." (Jo Angerer, 19.3.2023)