Menschen nehmen Reize, Themen und die Welt um sich unterschiedlich wahr. ADHS und Autismus kann in der Arbeit von Vorteil sein, sagen Fachleute.
Foto: Fatih Aydogdu

Endlich hat die Welt für Julian wieder Sinn ergeben. Dass er emotionale Ausbrüche vor dem Chef hatte, bei jeder Aufgabe prokrastiniert hat, ja sogar zu den allerwichtigsten Terminen nicht pünktlich erscheinen konnte: Er verstand nun, warum. Nachdem ein Geschäftspartner von seiner ADHS-Diagnose erzählte, kamen Julian die Symptome bekannt vor.

Er besuchte eine Ärztin, daraufhin eine klinische Psychologin und durchlief zahlreiche Tests. Diagnose: einfache Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Julian hat also auch ADHS. Offiziell seit Jänner dieses Jahres, inoffiziell schon immer. "Selbst als Kind stand in meinem Zeugnis immer, ich sei zu unaufmerksam", erinnert er sich. Das Urteil verfolgte ihn auch auf seinem Karriereweg. Er hat viermal den Job gewechselt, bis er letztlich selbstständiger Grafikdesigner und Artdirector wurde.

Was Julian von der Norm unterscheidet – wovon auch die Medizin ausgeht –, sind zu wenige der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin, beides Zünder für Motivation und Antrieb. Für das Berufsleben sind diese Botenstoffe im Gehirn essenziell, ohne sie kommt auch der Erfolg nur schwer. Aber ganz so simpel ist ADHS, so wie auch andere Neurodivergenzen, dann doch nicht erklärt. In diesem Text werden weitere Betroffene von ihren Joberfahrungen erzählen, ihre Namen bleiben auf ihren Wunsch hin, sie nicht zu outen, anonym.

ADHS, so wie Autismus, bekommt durch medizinische Forschung und die sozialen Medien immer größere Aufmerksamkeit. Immer mehr Unternehmen beginnen zu entdecken, dass Neurodiversität für sie eine Bereicherung sein kann. Was es bedeutet, verrät das Wort: Es gibt Diversitäten im Gehirn, und nicht die eine Form des Seins und Denkens, die richtig oder falsch ist. Selbst bekannte Gründerinnen und CEOs sollen ADHS oder Autismus haben. Klimaaktivistin Greta Thunberg sieht in ihrer Autismus-Diagnose einen Vorteil für den Kampf gegen Klimawandel.

Auch im Erwachsenenalter große Rolle

Aber immer noch haben viele bei ADHS kleine, hochaktive Buben im Kopf, die "Zappelphilipps". Seit Jahren ist jedoch klar: ADHS bedeutet nicht nur (oder auch gar nicht) motorische Hyperaktivität und spielt auch noch im Erwachsenenalter eine große Rolle. Sandra Graf, Klinische Psychologin aus Wien, hat bereits viele Diagnosen vergeben und ist dabei auf die unterschiedlichsten Ausprägungen von Neurodiversität getroffen.

"Mittlerweile weiß man, dass es sich auch bei ADHS, ähnlich wie bei Autismus, um ein Spektrum handelt." Vor allem seien exekutive Funktionen, also das "Ins-Tun-Kommen" oder das Organisieren betroffen. Anders gesagt, dem Gehirn fällt es schwer, sich selbst zu managen. Betroffene haben häufig Probleme bei der Impulskontrolle, es fällt ihnen schwer, vorausschauend zu planen, sie lassen sich leicht ablenken, entweder durch äußere Reize oder eigene Gedanken. Auch ein Hyperfokus auf Themen, die sie interessieren, kann dabei vorkommen – man bleibt an bestimmten Themen hängen und verliert den Blick für das große Ganze.

ADHS oder Autismus ist aber nicht nur defizitär zu betrachten. "Ein Leben mit ADHS ist nicht automatisch nur einschränkend." Wichtig sei es für die Betroffenen jedoch, eine Diagnose zu bekommen. Erst dann könnten sie sich mit ihrer "Funktionsweise" auseinandersetzen und Selbstzweifel ablegen. Viele geben sich dann nicht mehr die Schuld dafür, manche Dinge anders zu verarbeiten und wahrzunehmen als die Norm.

Laut der Psychologin ermöglicht die Diagnose auch einen Blick auf verschiedene, sehr gut ausgeprägte Kompetenzen, die ebenfalls ein Teil des Diagnosebildes sind. Etwa ein Hyperfokus oder gesteigerte Aufmerksamkeit für Themen, die einen interessieren. Genauso können neurodiverse Charaktere neue Ideen und Perspektiven in Teams einbringen, haben oft auch einen starken Gerechtigkeitssinn, nehmen Emotionen intensiver wahr und handeln empathisch.

Job muss begeistern

Die 29-jährige Katrin war erst sechs Jahre alt, als sie von einer Psychologin mit ADHS diagnostiziert wurde. Später entschied sie sich für das Studium Medientechnik, fuchste sich in das Programmieren und Development rein. "Damit wollte ich mir beweisen, dass ich gut in einem hoch angesehenen Feld bin", erinnert sich die 29-Jährige.

Sie startete als Frontend-Developerin und wurde fest angestellt. Schon bald aber war es für sie eine Qual, acht Stunden abzusitzen. Hätte sie sich nicht so gut mit ihren Kolleginnen verstanden, wäre sie direkt weg gewesen. Nach einem Krankenstand gestand sie ihrem Chef: Ihr macht die Arbeit einfach keinen Spaß.

Nun ist sie wieder auf Arbeitssuche und weiß genau, was sie will: ihr größtes Hobby als Job ausüben und ihre Stärke nutzen, als Grafikdesignerin. Sie malt jeden Tag, will ihre Gemälde bald auch online verkaufen. Seit sie tut, was sie wirklich mag, funktioniert sie auch viel leichter, sagt sie. Sie kann ihrer selbst auferlegten Routine folgen.

Unnatürliche Strukturen

Funktionieren müssen – ein Zustand, der in der heutigen Welt von jedem Arbeitnehmer grundsätzlich verlangt wird. Es gibt ein bestimmtes gesellschaftlich konstruiertes Muster, wie ein produktiver Tag verläuft. Acht Stunden arbeiten, Termine wahrnehmen, Kinder versorgen, Sport treiben, Zeit mit der Familie verbringen und mehr.

Michaela Hartl und Martin Eisner gründeten einen Verein für neurodiverse Menschen und coachen auch für Jobsituationen.
Foto: privat

"Die neurologischen Strukturen, die wir für unser erfolgreiches Funktionieren am allermeisten brauchen, hat man früher nicht gebraucht", erklärt die Pädagogin, Autismus-Fachberaterin und ADHS-Trainerin Michaela Hartl aus Wien. Zusammen mit ihrem Partner Martin Eisner – er selbst ist auch im ADHS-Spektrum – gründete sie sowohl das Unternehmen 8ung, zum Coaching für Menschen im Neurodivergenz-Spektrum, als auch den Verein Team ADHS.

Hier bieten die beiden ehrenamtlich Selbsthilfegruppen und Beratungsmöglichkeiten. "Heute muss man vom Aufwachen bis zum Schlafengehen strukturiert sein und darf auf nichts vergessen." Dies widerspreche dem Wesen von Menschen mit Neurodivergenz sehr häufig. Hartl hält auch regelmäßig Vorträge über ADHS und Jobtraining, definiert immer bestimmte förderliche Arbeitsatmosphären für Neurodivergenz: So können ein flexibles Zeitsetting, wertschätzende, entgegenkommende Atmosphäre, offener Umgang und flache Hierarchien Faktoren für ein passendes Umfeld sein. Ein Einzelarbeitsplatz mit Ansprechpartner und getrennte Einarbeitung in soziale und fachliche Themen können viele ebenfalls vor der Überforderung wahren.

Aktiv, empathisch, kreativ

Hartl definierte nach Gesprächen mit Betroffenen einige Jobs, die sich bei Neurodivergenz anbieten: Journalistin, Künstler jeglicher Art oder Konzeptentwickler wären kreative Berufe, die Abwechslung und Eigenständigkeit bieten. Rettungsfahrer oder Fahrradbotin wären aktive Berufe, bei denen Personen immer auf Trab wären. Bei Jobs in Start-ups oder sozialer Arbeit würden moderne Arbeitsbedingungen und viel Empathie eine Rolle spielen.

Anna Marton ist Geschäftsführerin beim Verein Specialisterne in Wien.
Foto: Specialisterne

Mit Neurodiversität einen Job finden, der zu einem passt, ist aber nicht immer leicht. Man muss vor allem ein Thema finden, für das man sich die meiste Zeit begeistern kann. Gerade deshalb kommt es bei ADHS, aber auch Autismus häufig vor, dass Betroffene "jobhoppen", sprich sehr oft ihre Arbeitsstelle wechseln. Anna Marton, selbst mit ADHS diagnostiziert, ist Geschäftsführerin des Vereins Specialisterne in Wien. Bei ihr und ihren Kollegen bekommen neurodivergente Personen Beratung und Kurse für ihre Laufbahn. Außerdem fungiert der Verein als Personalvermittler an Unternehmen. Firmen wie der Medikamentenhersteller Takeda, die Hypo NOE Bank, Accenture sowie Magenta haben mit Specialisterne eingestellt.

Nathalie Rau, Personalchefin bei Magenta, berichtet von positiven Erfahrungen. "Das klassische Recruiting-Verfahren ist nicht passend, um entsprechend auch die Skills von Autistinnen herauszufinden." Deshalb gebe es die Kooperation mit Specialisterne, wo "wir gemeinsam die passenden Rollen und Profile heraussuchen". Im Billing und Charging würden zwei Menschen mit Autismus arbeiten. "Die Führungskraft beschreibt beide Mitarbeiterinnen als Stütze im Team."

Bei Bewerbung übersetzen

Specialisterne coacht sowohl Chefs, die neurodivergente Personen ins Team bekommen, als auch die Betroffenen selbst. Wenn gewünscht, werden sie auch zu Bewerbungsgesprächen begleitet. Denn schon hier können Missverständnisse entstehen. Ein autistischer Kandidat antwortete einmal auf die Frage "Können Sie SAP?" mit "Nein", weil er mit zwei der SAP-Module gearbeitet hatte, nicht aber die gesamte Bandbreite von SAP kennt.

"Dabei nehmen wir die Rolle als Übersetzer ein." In dem Fall hätten sie die Frage noch einmal besprochen und hätten das SAP-Wissen hervorgehoben. Marton rät, früh mit dem Arbeitgeber über die Neurodivergenz zu sprechen. Wenn Offenheit herrsche, könne die passende Arbeitsatmosphäre geschaffen werden.

Der 30-jährige Gabriel hat sich vor der Kollegenschaft noch nicht offenbart, dafür hat er aber den richtigen Beruf für sich gefunden. "Mit ADHS weiß man sofort, was einem taugt und was nicht", scherzt der Volksschullehrer. Er wechselte von einer Uni an die Pädagogische Hochschule, dort hatte er mehr Routine. Weil er immer schon gut mit Kindern konnte, hat er letztlich seinen Traumjob gefunden, sagt er. Jeden Tag passiert Neues, er kann sich durch die Klasse bewegen, mal wird gesungen, mal gerätselt.

Es muss zünden

Im ADHS-Coaching arbeitet Hartl mit ihren Klientinnen am Zünden der exekutiven Funktionen. Sie lernen, wie sie Aufgaben nicht auf den letzten Drücker erledigen, sondern bereits beginnen, wenn sich alles zeitlich gut ausgeht. "Personen mit ADHS schaffen alles, bringen auch Hochleistungen, haben aber immer Stress", erklärt Hartl.

Sie sucht mit Betroffenen, was bei ihnen positive Aufregung auslöst, die rechtzeitig Dopamin erzeugt, um sich genügend zu motivieren – und Stress zu vermeiden. "Es ist nicht so, dass die Person nicht interessiert oder respektlos ist", so Hartl. Sie müsste es nur schaffen, innerlich zu zünden. (Melanie Raidl, Jasmin Altrock, 22.3.2023)