Brennende Straßenbarrikaden in Paris.

Foto: EPA/TERESA SUAREZ

Frage: Was passiert in Frankreich?

Antwort: Emmanuel Macron hat am Donnerstag auf den Verfassungsartikel 49.3 zurückgegriffen, der die Annahme einer Gesetzesvorlage ohne Parlamentsabstimmung ermöglicht. Diese Prozedur wirkte wie ein Funke im Pulverfass: In der Nacht auf Freitag kam es in größeren Städten wie Paris, Lyon, Marseille, Nantes und Rennes zu schweren Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei. Auf Hauswänden tauchten Graffitis wie "Inflation der Wut" auf.

Bilder von den Zusammenstößen in Paris am Donnerstag
DER STANDARD

Protestierende errichteten Barrikaden und griffen die Ordnungshüter mit Leuchtraketen an; die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein und verhaftete nach eigenen Angaben 310 Randalierer, davon 258 allein in Paris. Am Freitag sperrten Gewerkschafter und Fernfahrer die "périphérique", die Ringautobahn um Paris, was den Verkehr in weiten Teilen der französischen Hauptstadt zum Erliegen brachte.

Frage: Warum aktivierte Macron den Artikel 49.3?

Antwort: Die Staatsführung hatte am Donnerstag bis zur letzten Minute versucht, in der 577-köpfigen Nationalversammlung eine Mehrheit von 289 Stimmen für die Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre zu finden. Trotz massiver Konzessionen seitens des Macron-Lagers (250 Sitze) wollten die konservativen Republikaner (61) nur zur Hälfte für die Vorlage stimmen; viele gaben keine Stimmenzusage.

Macron musste deshalb im letzten Moment Verfassungsartikel 49.3 aktivieren. Das heißt so viel wie: Eine Regierung kann ihre Vorlage über die Köpfe der Parlamentarier für angenommen erklären, dafür muss sich die Regierung einer Vertrauensabstimmung stellen.

Frage: Was bezweckt der Artikel 49.3?

Antwort: Landesvater Charles de Gaulle hatte 1958 diesen Verfassungskniff in die Verfassung der Fünften Republik aufgenommen, um mit der chronischen Instabilität der Vierten Republik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufzuräumen. Das Ziel wurde erreicht, konnten sich doch mithilfe des "Quarante-neuf trois" (Neunundvierzig drei) viele Regierungen im Amt halten.

Diese autoritäre, sehr wenig demokratische Prozedur ist in Frankreich in den letzten Jahrzehnten hundertmal zum Einsatz gekommen. Rekordhalter ist Michel Rocard: Der sozialistische Premier von 1988 bis 1991 wandte den Artikel 49.3 insgesamt 28-mal an, weil er in der Nationalversammlung keine Mehrheit hatte.

Frage: Wie geht es in Paris nun weiter?

Antwort: Auch wenn die Pensionsreform nun in Kraft ist, ist ihre Existenz noch nicht gesichert. Zum einen gehen die Proteste dagegen weiter. Die Gewerkschaften rufen für nächsten Donnerstag zu einem neuen – dem neunten – Aktionstag auf. Die jüngsten Krawalle haben zudem gezeigt, dass mit einer Radikalisierung der Gegner zu rechnen ist.

Zum anderen sind bereits mehrere Klagen vor dem Verfassungsgericht, dem Conseil constitutionnel, gegen die Macron-Reform angekündigt. Die Linksunion Nupès, die Rechtspopulisten und auch einige unabhängige Abgeordnete haben zudem am Freitag mehrere Misstrauensanträge eingereicht. Sie dürften in der Nationalversammlung ab Montag zur Abstimmung kommen.

Frage: Kann die Regierung zu Fall kommen?

Antwort: Ob die Misstrauensanträge gegen die Regierung nächste Woche Erfolg haben werden, ist offen. Der Entscheid, der Neuwahlen auslösen würde, hängt vom Verhalten der konservativen Republikaner sowie unabhängiger Abgeordneter ab. Sie sind wenig erpicht auf einen neuen Wahlkampf. Auf jeden Fall müsste "nur" Premier Elisabeth Borne den Hut nehmen, nicht Staatspräsident Emmanuel Macron. Er sitzt aufgrund der Machtfülle, die ihm die Verfassung der Fünften Republik einräumt, fest im Sattel, obwohl er die politische Hauptzielscheibe der Reformgegner ist.

Borne hat am Donnerstag selber eingeräumt, sie sei eine "Sicherung" für den Staatspräsidenten: Wenn die Opposition eine Stimmenmehrheit zustande bringe, müsse sie abtreten. Der zurückbleibende und höchst unpopuläre Präsident hätte allerdings keinen politischen Spielraum mehr. Dabei ist Macron noch bis 2027 gewählt. Wie er diese vier Jahre politisch überstehen soll, wüsste niemand zu sagen. (Stefan Brändle aus Paris, 17.3.2023)